Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
große Szene zu drehen, für die gerade ideale Witterung herrschte, nämlich ein leichter Schneesturm. Taşbaş sollte in dem menschenleeren Dorf umhergehen und lauthals auf die Einwohner schimpfen, und dabei durfte sich natürlich von den echten Einwohnern niemand blicken lassen. Die Regieassistenten scheuchten die Leute mit dem Megafon von der Straße und riefen sofort »Weg! Weg!«, wenn sie jemanden nur aus der Ferne sahen. Als sich niemand mehr blicken ließ, fingen wir an zu drehen. Sowohl für mich als auch für den Theaterschauspieler Rutkay Aziz war es die erste große Filmszene überhaupt.
Laut Drehbuch musste Rutkay rufen: »Ihr Feiglinge! Ihr habt ja den Verstand verloren vor lauter Angst. Wie Ratten habt ihr euch in euren Häusern verkrochen. Kommt heraus, wenn ihr Männer seid!« Dieser mit donnernder Stimme vorgetragenen Aufforderung vermochten die Dorfbewohner sich nicht zu widersetzen, und einer nach dem anderen kamen sie aus ihren Häusern heraus. Die stundenlang vorbereitete Szene war im Eimer.
Die Assistenten liefen aufgeregt herum und riefen: »Nein! Es seid doch nicht ihr gemeint. Geht wieder rein!« Erstaunt gaben die Leute zurück: »Erst sollen wir drinnenbleiben, dann rauskommen … Wie soll man sich da noch auskennen?«
Rutkay ging so sehr in seiner Rolle auf, dass er auch außerhalb der Drehzeiten wie ein Heiliger herumlief und auch so dreinsah und redete. Auch Yavuzer Çetinkaya, der den Bürgermeister spielte, legte nie sein schwarzes Jackett und seinen Filzhut ab, so dass er von den Leuten oft als Bürgermeister angesprochen wurde. Neben dem echten Bürgermeister, einem unscheinbaren und auch recht ungelenken jungen Mann, nahm Yavuz sich viel imposanter aus. Bald erzählten die Einwohner ihre Sorgen lieber ihm.
Einen Monat nach unserer Ankunft wurde im Dorf ein Cem abgehalten, ein alevitischer Gottesdienst mit seinen ganz eigenen Riten. Wir fragten die beiden Dorfältesten Cemal und Mehmet, ob wir diesem beiwohnen dürften, und da ich den Leuten als halber Alevit galt, gaben sie ihre Erlaubnis.
Es war ein unverfälschter Cem ohne touristischen Beigeschmack. Der Dede genannte Leiter spielte auf der Saz, sprach Gebete, es wurde gesungen, die Namen der zwölf Imame wurden vorgetragen, und die verschiedenen Diener verrichteten ihre Tätigkeiten. Danach wurde das Essen aufgetragen, zu dem jeder Teilnehmer nach Kräften beigetragen hatte. Nachdem der Dede das Niyaz-Gebet gesprochen hatte, wurde gemeinsam gegessen, danach kam der Semah-Tanz. Es folgte ein der christlichen Beichte ähnlicher Ritus, bei dem man entweder eine eigene Schuld bekannte oder aber jemand anderen irgendwelcher Sünden bezichtigte, worauf der Dede die entsprechende Strafe verhängte. Bevor man dabei sprechen durfte, musste man auf Knien in die Mitte des Raumes vorrutschen. Das tat einer der Dorfbewohner und sagte dann: »Dede, ich muss Klage über den Bürgermeister führen.« Dabei deutete er auf den Schauspieler Yavuzer.
»Welche Klage?«
»Er hat schon vor dem Niyaz-Gebet etwas gegessen.«
In gespannter Erwartung sahen wir den Dede an. Im Befehlston rief er: »Der Bürgermeister soll herkommen!«
Yavuzer rutschte neben den Mann hin, der sich über ihn beschwert hatte. Der Dede fragte ihn, ob er zu Recht beschuldigt worden sei, worauf Yavuzer hochroten Gesichts murmelte: »Ja, als die Zuckerkringel gekommen sind, hatte ich Lust darauf, und ich wusste ja nicht, dass man vor dem Gebet nicht essen darf.«
Der Dede setzte ein nachdenkliches Gesicht auf und flüsterte dann mit dem streng dreinblickenden Alten neben sich. Währenddessen musste Yavuzer auf Knien das über ihn gesprochene Urteil abwarten, und weder halfen ihm seine Fremdsprachenkenntnisse noch sein französischer Doktortitel in Filmtheorie. Schließlich gab der Dede seinen Entschluss bekannt.
»Der Bürgermeister behauptet, er wisse nicht, dass vor dem Niyazi-Gebet das Essen nicht angerührt werden darf. Hätte ein unwissender Dorfbewohner das gesagt, so wäre ihm verziehen worden, aber ein Bürgermeister muss so etwas wissen und hat daher der Gemeinde ein Schaf zu spenden.«
Ein andermal gerieten wir wegen der Zaubereien in die Bredouille, mit denen Taşbaş im Film die leichtgläubigen Dorfbewohner übers Ohr zu hauen versucht. Ich überlegte mir, was für Gaukeleien wir erfinden könnten, und kam schließlich auf etwas mit Räucherwerk und auf einen Hokuspokus mit einer Schnur, in die lauter Knoten gebunden wurden. Als dann beim Drehen gerade
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