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Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Titel: Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zülfü Livaneli
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ersten Stücke waren einfache Volkslieder, wie sie Tag für Tag aus unserem Philips-Radio dudelten. Danach dachte ich mir selber Melodien aus. Bald fand ich daran solchen Gefallen, dass ich sogar nachts aufstand und an eigenen Liedern bastelte. Bei meinem Vater kam Reue auf, da mein Hang zum Unmaß sich nun auch beim Saz-Spielen zeigte. Mit der Ruhe war es zu Hause vorbei.
    Mein drittes, richtig eingeübtes Lied war »Portofino«, eine romantische Melodie, die damals überall gespielt wurde. Eine Freundin meiner Mutter wünschte sich das Lied von mir, das mir zuerst nicht sonderlich gefiel. Nach ein paar Tagen aber war ich so weit, dass ich zu Beginn des Liedes mit dem Mund Wellengeräusche imitierte, dann wie auf der Mandoline in ein Tremolo verfiel und dazu sogar sang: »I found my love in Portofino.« Zu meinem Repertoire gehörten auch »Tom Dooley« und das amerikanische Bergarbeiterlied »Sixteen Tons«, in dem es heißt:
    »You load sixteen tons, what do you get / Another day older and deeper in debt / Saint Peter don‘t you call me, cause I can‘t go / I owe my soul to the company store.«
    2007 war ich in einem Berliner Studio mit dem Mix für ein Album beschäftigt, das die amerikanische Blues- und Jazzsängerin Jocelyn Smith mit von mir komponierten Bluestiteln aufnahm. Einmal schlug Jocelyn dabei ungläubig die Hände über dem Kopf zusammen: »Das muss man sich mal vorstellen: In diesem Stück wird praktisch die ganze Blues-Geschichte erzählt, und geschrieben wurde es in der Türkei. Ist das nicht unglaublich?«
    Beim Stichwort Türkei fielen Jocelyn eben als erstes Bauchtanz und lamentierende Musik ein, und ich hatte ihr noch nicht erzählt, dass ich mich in meiner Kindheit nicht nur mit anatolischen Volkssängern, sondern voller Begeisterung auch mit dem Blues beschäftigt hatte. Abgesehen von ihrer Herkunft sah ich zwischen jenen beiden Volksmusiktraditionen keinen Widerspruch und sehe auch heute noch keinen.
    Anfangs hatte ich noch Schwierigkeiten mit dem Stimmen meiner Saz, doch in den Sommerferien in Ilgın fand ich heraus, dass der Inhaber des Fahrradladens gut Saz spielte, und ließ es mir von ihm beibringen. Als ich später mit wahren Meistern dieses Instruments zusammentraf, war ich schon ein richtiger kleiner Saz-Könner.
    Als ich einmal mit Freunden in Ankara im Viertel Emek unterwegs war, hörte ich von irgendwoher eine Saz, und zwar so schön gespielt, wie ich das noch nie gehört hatte. Wir entdeckten, dass im Erdgeschoss eines Neubaus ein paar junge Leute ein Ladenlokal mit Vorhängen abgedeckt und sich dort gemütlich eingerichtet hatten. Ich sagte ihnen, dass ich auch Saz spielte, was sie mir erst nicht glauben wollten. Also griff ich zu ihrer Saz und spielte ihnen eine Tanzmelodie vor. Sie waren recht angetan, und es entwickelte sich daraufhin eine musikalische Freundschaft zwischen uns.
    Eine weitere wichtige Begegnung fand in Çorum in Nordanatolien statt. Wenn mein Vater während meiner Schulferien als Gerichtsinspekteur unterwegs war, nahm er mich manchmal mit. Wir verbrachten einen Monat in Çorum, und um mich zu beschäftigen, erkundigte sich mein Vater bei einem Staatsanwalt, ob es in der Gegend nicht einen Volkssänger gäbe, der gut auf der Saz spiele. Es gäbe sehr wohl einen, und zwar einen recht berühmten, bekam er zur Antwort. So wurde mir der Sohn eines Gerichtsschreibers geschickt, der mich zu dem Mann bringen sollte.
    Er führte mich zu einem hüttenartigen Haus, wo ich einem bärtigen alten Derwisch beim Saz-Spiel zuhören durfte. Es war dies womöglich der bedeutendste Tag meines musikalischen Lebens, dem eine ganz neue Richtung verliehen wurde. Was der Derwisch spielte, war so völlig anders als alles, was ich bisher auf der Saz vernommen hatte. Es lässt sich gar nicht beschreiben, wie groß der Unterschied zu den Armseligkeiten war, die man gewöhnlich im Radio zu hören bekam. Der Derwisch spielte die Melodie auf drei Saiten und reicherte sie fortwährend mit Akkorden an. Mit der rechten Hand brachte er nach Art klassischer Gitarrentechnik einen solchen rhythmischen Reichtum hervor, dass ich nur ungläubig staunen konnte.
    Zum ersten Mal kam ich mit den archaischen Klängen Anatoliens in Berührung und war hingerissen. Ich bat den Derwisch, seine Saz selbst einmal in die Hand nehmen zu dürfen. Ich brachte rein gar nichts darauf hervor. Da die Saiten völlig anders gestimmt waren, hatte ich das Gefühl, ein anderes Instrument in der Hand zu halten.
    Dass ich

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