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Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Titel: Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zülfü Livaneli
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durften.
    Mein als Rechtsanwalt tätiger Großvater Asım in Ilgın war ein stattlicher Mann, der morgens ohne zu frühstücken aus dem Haus ging und bis zum Abend durcharbeitete, ohne irgendetwas zu sich zu nehmen. Wenn er dann nach Hause kam, aß er allerdings gewaltige Mengen Grillfleisch, rauchte dazu ein Päckchen Zigaretten und trank Rakı. Uns Kindern war er ein liebevoller Großvater. Außer ihm lebten in dem Holzkonak meine Großmutter Tevhide, die wie eine Bandenchefin aus einem Cowboyfilm wirkte, und ein paar Tanten. Den Nachmittag verbrachten die Frauen auf Betten hingelagert mit stundenlangem Tratsch. Vor allem meine sehenswert dicke Tante Fikriye lag da wie eine Botero-Figur.
    Wie in jeder anatolischen Kreisstadt gab es auch in Ilgın einen großen Park, und dort wurde ich eines Tages von zwei Studenten angesprochen. Ich kannte die beiden flüchtig, sie studierten in Ankara. Sie hätten gehört, dass ich mich für Musik und Bücher interessiere, und hätten für mich etwas zu lesen. Ich fragte, was es denn sei, und sie meinten, es sei genau das Richtige für mich, wo ich doch daran interessiert sei, über die Kunst den Menschen zu helfen und eine bessere Welt zu schaffen. Der Autor sei ein gewisser Said-i Nursi, auch bekannt unter dem Namen Bediüzzaman. Seine Schriften habe er verfasst, um damit der Menschheit zu helfen, die in eine große Krise geraten sei. Sie gaben mir einige davon mit.
    Ich setzte mich damit in das Pappelwäldchen, das an die schattigen Wälder bei Tarkowski erinnerte, und begann zu lesen. Wenn ich auch über einige unbekannte Wörter stolperte, gewann ich doch rasch einen Eindruck von der Sache. Das Ganze war in einem feurigen Stil geschrieben, der eine sehr eigene Auffassung vom Gebrauch des Türkischen verriet. Ich konnte mich der Wirkung der Bücher nicht entziehen. Da mein anderer Großvater mich schon als Grundschüler in Religion unterwiesen hatte, war mir auch die Terminologie nicht fremd.
    Das erste Kapitel befasste sich mit dem Begriff des Schicksals. Wenn das Schicksal des Menschen schon festgeschrieben sei, wonach solle er dann noch streben? War dann nicht sowohl für seine Sünden als auch für seine guten Taten einzig und allein Gott verantwortlich? Diese Frage interessierte mich sehr, nicht nur war sie eine der grundlegenden in der existentialistischen Philosophie, auch Balzac hatte sie einmal seinem Lehrer gestellt.
    Said-i Nursis Antwort darauf war interessant: Er zog einen Vergleich zwischen dem Schicksal und einer Mondfinsternis. Die Menschen wüssten genau, an welchem Tag und zu welcher Stunde der Mond sich verfinstern werde, doch bedeutete dieses Wissen nicht, dass die Menschen jene Mondfinsternis auslösten. Der Mond verfinstere sich nach seinen ureigenen Gesetzmäßigkeiten, und wir Menschen wüssten darüber lediglich Bescheid. Mit dem Schicksal verhalte es sich genauso. Das Schicksal eines Menschen hänge von seinem eigenen Verhalten ab, nur sei es Gott schon im Voraus bekannt.
    Von einer leichten Brise umweht, schloss ich unter den Pappeln die Augen. Was war dieser Autor doch für ein kluger Kopf! Es war, als hätte er sich auf einen Disput mit Balzac, Kierkegaard und Camus eingelassen und auf die gleichen Fragen einleuchtendere Antworten gefunden. An jenem Tag las ich bis in den Morgen hinein. Vor allem das Kapitel über den freien Willen und den Willen Gottes brachte mich weiter. Am folgenden Tag traf ich mich mit den beiden Studenten wieder und sagte ihnen, wie gut mir die Bücher gefallen hätten. Sie waren erfreut und gaben mir gleich neue mit. So war ich den ganzen Sommer über mit den Schriften und Gedanken Said-i Nursis beschäftigt.
    Als ich zurück in Ankara war, suchten mich die Studenten, die in einem Wohnheim wohnten, weiterhin auf und berichteten von Versammlungen, in denen jene Schriften gemeinsam gelesen und besprochen würden. Ich sei herzlich dazu eingeladen, die anderen freuten sich schon darauf, mich kennenzulernen.
    An einem Sonntag ging ich dann zu einer solchen Versammlung in eine Wohnung im Stadtteil Cebeci. Es waren an die 15 bis 20 Personen anwesend, alles Studenten. Zuerst wurden einzelne Passagen vorgelesen, aber die sich anschließenden Kommentare und Diskussionen fand ich alles andere als niveauvoll. Ich hatte den Eindruck, in eine politische Gruppierung geraten zu sein. Ohnehin hatte ich schon meinen Vater nach Said-i Nursi gefragt und erfahren, dass die Nurculuk-Bruderschaft auch eine politische Dimension hatte. Da die

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