Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
Ja, sie kämmte sich gerade!« einen tieferen Sinn zu sehen, worauf ich natürlich als siebengescheiter Junge galt. Als damals unter der Leitung von Asaf Çiğiltepe in Ankara eine moderne Theaterbühne entstand, besuchte ich die erste Vorstellung von Warten auf Godot .
Eines wurde mir gewiss: In das Milieu, dem ich entstammte, passte ich nicht mehr. Meine Welt waren Asaf Çiğiltepe, Godot, Ionesco. Die Schule langweilte mich zu Tode, und außer der Kunst war mir alles nur eine Last. In jenen krisenhaften Tagen stieß ich auf ein Buch. Auf dem braunen Umschlag stand: »Jean-Paul Sartre: Der Ekel«.
Danach begann für mich eine neue Zeit.
S chwarzer Pullover, schwarze Hose, düsterer Blick: Die von Jean-Paul Sartre und Albert Camus lancierte Mode des Existentialismus schwappte bis in die Türkei hinüber. Wir liefen in Ankara herum, den Kopf voller Jaspers und Kierkegaard. Zwar hatten wir Mühe mit deren Lektüre, aber immerhin war es eine angenehme Mühe.
Der Existentialismus war ein willkommener Anlass, uns gegen unser Umfeld und die Traditionen aufzulehnen. Wenn der Mensch im Grund frei war, dann mussten auch wir über unser Leben selbst entscheiden können. Ein Tisch wurde von einem Schreiner entworfen und war daher in seinem Wesen schon bestimmt, noch bevor er existierte. Der Mensch hingegen, der ja kein Objekt war, existierte zunächst und definierte erst danach sein Wesen. Er konnte sich also selbst bestimmen und folgte dabei nichts anderem als seinem freien Willen.
Wir diskutierten über das von Sartre angeführte Dilemma eines jungen Franzosen, der sich im Krieg entscheiden musste, ob er sich der Résistance anschließen oder bei seiner kranken alten Mutter bleiben sollte. Es galt dem jungen Mann als gewiss, dass seine Mutter eine Trennung von ihm nicht überleben würde. Um zu einer Entscheidung zu kommen, wandte er sich an alle möglichen moralischen Instanzen. In religiösen Schriften las er an der einen Stelle, nichts gehe über die Liebe zur eigenen Mutter, an einer anderen wiederum, es sei eine heilige Pflicht, fürs Vaterland zu kämpfen. Es gab also keine Instanz, die dem jungen Mann seine Entscheidung abnehmen konnte und durfte. Uns erschien das wunderbar.
Vom Sozialismus, der uns später mit sich fortreißen würde, hatten wir damals noch kaum eine Ahnung. Mit dem heutigen Abstand sehe ich aber deutlich, dass uns der Weg zum Sozialismus durch den Existentialismus geebnet wurde. Wir lernten, gegen alle Traditionen und Institutionen zu rebellieren. Als sich überall in der Welt linke Strömungen bildeten, hatten wir unsere Bindungen längst gelöst und waren bereit für den Internationalismus.
So sehr verinnerlichten wir den Existentialismus, dass wir uns gegenseitig nicht einmal mehr grüßten. Wenn wir uns trafen, konnten wir stundenlang schweigend beisammensitzen, allesamt in der Pose nachdenkender Menschen. Irgendwann stand dann der Erste auf und ging grußlos davon. Camus hatte erklärt, die Welt sei absurd, und wir stimmten dem unbedingt zu.
Im Gegensatz zu meinen Freunden fuhr ich aber mehrgleisig. Zwar las ich die Existentialisten, doch bewunderte ich auch Haudegen wie Hemingway oder Jack London. Vor allem aber forschte ich immer weiter jener uralten anatolischen Musik nach, die vom Rundfunk völlig ausgeblendet wurde. Ich spielte alles, worauf ich nur stieß, in sämtlichen Stilrichtungen. Es kam vor, dass ich fünf, sechs Stunden unablässig mit der Saz beschäftigt war. Selbst an Flamenco-Akkorden versuchte ich mich. Ohne dies als Widerspruch zu empfinden, konnte ich von Derwisch-Klängen zu Kierkegaard übergehen.
Mit der alevitischen Musik befasste ich mich so intensiv, dass ich oft für einen Aleviten gehalten wurde. Ich habe es auch stets als Ehre aufgefasst, von den Aleviten als einer der ihren angesehen zu werden, obwohl von meiner Familie her keinerlei Beziehung besteht.
Es wirkten aber noch ganz andere kulturelle Einflüsse auf mich ein. In einem Jahr etwa fuhren wir in den Sommerferien in meinen Geburtsort Ilgın. Dort wohnten meine Großeltern in einem großen Konak griechischer Bauart, in dem wir einen herrlichen Sommer verbrachten. Wir blickten auf einen Pappelhain und eine Schafherde und wurden morgens von köstlichem Pastetenduft geweckt. Solche Naturfreuden hatte ich bis dahin erst einmal erlebt, im westanatolischen Dalaman nämlich, wo mein Vater als Staatsanwalt für das Gefängnis zuständig war und wir an Wochenenden auf einem riesigen Bauernhof reiten
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