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Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Titel: Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zülfü Livaneli
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Fahne hielt ich unter dem Hemd verborgen. Es wurde immer kälter, und gegen Mitternacht verlor ich allmählich sämtliche Hoffnung. Da sah ich einen Cadillac auf mich zukommen und stellte mich heftig winkend auf die Straße. Der Wagen war vollbesetzt, und der Fahrer wollte mich nicht mitnehmen. »Ich kann auch in den Kofferraum!«, flehte ich, und sie ließen sich darauf ein. Nach langer Fahrt wurde ich in einer Gegend herausgelassen, die mir zumindest bekannt war. Ich wusste nicht, wer die Leute in dem Auto waren und was sie an dem Putschtag auf der Straße zu suchen hatten, aber für mich war der Cadillac eine märchenhafte Rettung.
    Meine Mutter, die schon genug mit mir durchmachte, wurde an dem Abend vor Sorge fast verrückt. Und für mich endete der aufregende Tag mit wunden Füßen.
    Die allgemeine Begeisterung über den Putsch gegen die als reaktionär angesehene Regierung hielt noch eine Weile an. Meine Großmutter als eifrige Anhängerin der früheren Einheitspartei CHP triumphierte über meinen Großvater, der sich auf die Seite der Demokratischen Partei geschlagen hatte. Dem Ministerpräsidenten Adnan Menderes wurde auf der Insel Yassıada im Marmara-Meer der Prozess gemacht. Abend für Abend lauschten wir am Radio den Gerichtsverhandlungen. Ich begriff natürlich nicht alles, was da vor sich ging. Mein Vater wurde unterdessen zum Vorsitzenden einer Kommission bestellt, die Unterschlagungen im Verkehrsministerium untersuchen sollte.
    Eines Morgens sah ich meine Großmutter weinend dasitzen. Wortlos hielt sie mir die Zeitung hin. Auf der Titelseite sah man Adnan Menderes in einem weißen Gewand am Galgen hängen. So sehr meine Großmutter gegen Menderes gewesen war, schluchzte sie nun über seinen Tod.
    Wenn über diesen ersten Militärputsch vom 27. Mai 1960 debattiert wird, muss ich immer an jene Szene zurückdenken, an das barbarische Unrecht, das Adnan Menderes, den beiden mit ihm hingerichteten Ministern und ihren Familien angetan wurde. Als ich später in der Zeitung Sabah eine Kolumne hatte, stieß ich auf ein Foto von damals, das die Familie von Menderes auf Besuch bei dem Angeklagten zeigte. Der Militärkommandant der Insel saß in der Mitte auf einem Stuhl, als sei niemand anders als er das Familienoberhaupt, während der arme Menderes mit gesenktem Kopf im Hintergrund stand. Ich schrieb daraufhin einen Artikel darüber, wie unbarmherzig ich es fand, jemanden im Beisein seiner Familie so zu erniedrigen, woraufhin mich Aydın Menderes anrief, der Sohn von Adnan Menderes, um sich bei mir zu bedanken.
    Der Putsch hatte jedoch auch seine guten Seiten. Nach Jahren staatlicher Bevormundung wurde nun eine vergleichsweise liberale Verfassung verabschiedet, die einen kulturellen Aufschwung zuließ. Ob Literatur, Theater oder Musik, in allen Bereichen strömte Neues auf uns ein. In der progressiven Zeitschrift Yön wurden die Gedichte Nâzım Hikmets veröffentlicht.
    Es ist schwer zu sagen, ab wann ich mich als »Linken« bezeichnete; vermutlich war es ein schleichender Prozess, der mit Nâzım Hikmet einsetzte und durch eifriges Lesen beschleunigt wurde.
    Dass solche Lektüre nicht immer pures Vergnügen war, merkte ich, als ich mich mit den Werken von Karl Marx befasste. Ich versuchte mich am Kapital , aber allein der Begriff »zwanzig Yards Leinen« kam derart oft vor, dass ich ihn bald über hatte. Überhaupt konnte ich der englischen Wirtschaft früherer Jahrhunderte nicht viel abgewinnen, und Termini wie »Mehrwert« und »Tauschwert« tanzten mir wild vor den Augen herum. Ich sah bald ein, dass mir hier Grenzen gesetzt waren, und verschob diese Lektüre auf später. Jahre danach hatte ich noch immer Mühe genug damit.
    Mein verwirrter Seelenzustand führte dazu, dass ich in der Schule bei der Abschlussprüfung scheiterte und das letzte Jahr wiederholen musste. Einem Freund von mir ging es genauso, und gemeinsam saßen wir dann ein Jahr lang in der letzten Bank. Jener Freund namens Mehmet Sönmez, der später Maler werden sollte, verbrachte die Schulstunden damit, unablässig zu zeichnen, während ich Gedichte und Erzählungen schrieb oder mir Gedanken notierte.
    Außerhalb des Unterrichts hatte ich Umgang mit Rüstem, einem ziemlichen Rauhbein. Der immer schwarzgekleidete schmale Junge konnte gut Englisch und fuhr mit einer Harley Davidson herum. Wenn wir nebeneinander hergingen, durfte ich nie rechts von ihm sein, damit er jederzeit seine Pistole ziehen könne. Das war vermutlich pure Angabe,

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