Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
Studenten ziemlich unwissend wirkten und eher wie politische Aktivisten argumentierten, stieß mich die ganze Veranstaltung ab. Ich ging zu keiner weiteren hin und schloss auch mit jenen Büchern ab. Mein zwischen Existentialismus und Said-i Nursi und zwischen Hemingway und alevitischen Volkssängern hin und her vagabundierender Geist sollte sich aber schon bald einer neuen Richtung zuwenden.
In der Türkei wurde nämlich damals ein Buch des russischen Philosophen Georgi Plechanow veröffentlicht, das uns über den historischen Materialismus aufklärte und die Welle der nach 1960 publizierten linken Literatur einleitete. Erstmals erfuhren wir von Überbau und Unterbau, von der bestimmenden Kraft des Ökonomischen und von der verändernden Wirkung der Technologie.
Plechanow führte ein Beispiel aus den Jagdsitten primitiver Volksstämme an. Als noch mit Pfeil und Bogen gejagt worden sei, habe den größten Anteil derjenige Jäger erhalten, dessen Pfeil dem Herz eines Beutetiers am nächsten gekommen sei. Dies sei leicht zu bestimmen gewesen, da alle Pfeile eine Kennzeichnung aufgewiesen hätten. Nach dem Aufkommen von Schusswaffen habe der Verteilungsmodus geändert werden müssen, da Gewehrkugeln sich nicht identifizieren ließen.
Ein besseres Beispiel dafür, wie durch technologische Entwicklung der rechtliche Überbau verändert wurde, konnte es doch gar nicht geben. Zeile für Zeile fühlte ich mich mehr vom Marxismus angezogen. Es entstand ein geradezu unwiderstehlicher Sog. Ich sah die Welt um mich herum mit anderen Augen. An die Stelle des vom Existentialismus propagierten Bemühens um die Interpretation von Welt und Existenz trat ein neuer Begriff, nämlich der von der Veränderung der Welt.
Ein solch hohes Ziel ins Auge zu fassen war mir damals noch nicht einmal in den Sinn gekommen. Ich verschlang die nun Schlag auf Schlag veröffentlichte sozialistische Literatur und füllte meinen Bücherschrank mit Hegel, Marx, Engels und Lenin.
Marxistische Werke waren wohl auch zuvor schon in der Türkei publiziert worden, doch ohne unser Wissen. Der Meilenstein in der geistigen Entwicklung unserer Generation war das Jahr 1960, genauer gesagt der 27. Mai, ein Tag, an den ich mich noch sehr genau erinnere.
A m Tag des Militärputsches gegen die konservative Regierung war mein Vater wie üblich auf Reisen. Wir Kinder wurden sehr früh wach, weil das Radio schon lief. So wie ich es später in meinem Film Nebel zeigen würde, waren alle um das Radio versammelt, in freudiger Erregung über den Sturz der Diktatur. Auch wenn es kaum zu glauben ist, aber der Krämer unten verteilte kostenlos Limonade. Angeblich herrschte eine Ausgangssperre, aber wir gingen alle hinaus auf die Straße. Wir wussten nicht ganz genau, worüber wir uns freuten, aber wir freuten uns.
Als die Tochter unserer Nachbarn von dem Umsturz gehört hatte, hatte sie spontan geschworen, den Erstbesten draußen auf der Straße zu küssen. Dann spähte sie vom Balkon hinunter, allmählich von Reue und Scham gepackt. Wir warteten aufgeregt mit ihr. Schließlich kam ein junger Mann daher, vermutlich ein Student. Das Mädchen trat vors Haus, ging auf ihn zu und sagte: »Du bist jetzt mein Bruder. Ich habe heute einen Schwur getan, und jetzt muss ich dich küssen.« Und sie machte es tatsächlich.
Am Nachmittag saß ich mit einer türkischen Fahne in der Hand auf dem Balkon, als ein Lastwagen voller rufender Menschen vorbeikam. Sie ließen den Umsturz hochleben und schimpften auf die bis dahin herrschende Partei. Plötzlich hielt der Lastwagen, und die Leute winkten mich herunter, denn ich hatte eine Fahne und sie nicht. Kurz darauf thronte ich auf dem Dach der Fahrerkabine, schwang mit der Begeisterung eines Vierzehnjährigen die Fahne und stimmte in die Parolen mit ein. So kurvten wir in ganz Ankara herum. Voller Stolz registrierte ich die vielen Leute, die mir von Balkons herunter zusahen.
Das ging so bis zum Abend, dann wurde ich in einem Viertel abgesetzt, das mir völlig unbekannt war. Mutterseelenallein stand ich mit meiner Fahne da. Ich hatte kein Geld in der Tasche, und wegen der Ausgangssperre waren keine Autos mehr unterwegs. Es begann zu dunkeln, und ich ging durch leere Straßen. Den Leuten auf dem Lastwagen war ich sehr böse. Ich hatte daheim nicht Bescheid gesagt, und meine Mutter musste sich furchtbare Sorgen machen.
Stundenlang wanderte ich orientierungslos durch die Stadt. Wenigstens gabelte mich kein Militärfahrzeug auf. Die
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