Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
verfehlte aber nicht seine Wirkung auf mich. Was uns vor allem verband, waren amerikanische Romane, die wir beide im Original lasen.
Nicht nur Gedichte und Erzählungen schrieb ich in der Klasse, sondern einmal auch einen langen Brief, und zwar an ein Mädchen, das in einer der vorderen Bänke saß und es mir angetan hatte. Wie sie sich im Unterricht verhielt, wie sie mit den Lehrern sprach, wie sie auf dem Weg mit Freundinnen ins Kino ihre Schultasche trug und die Arme schwenkte: Einfach alles war anders und besonders an ihr. Über der blauen Schuluniform trug sie eine weiße Lederjacke, deren Kragen mit durchsichtigem Nylon vor dem Verschmutzen geschützt war. Nach einer Weile freundeten wir uns an. Sie hieß Ülker, war die Tochter eines Obersten und hatte noch zwei Schwestern. Wir würden uns noch wundern, wie nah das Schicksal uns zusammenführen würde.
Nach dem Unterricht gingen meine Schulkameraden und ich getrennte Wege. Sie trollten sich in Cafés, spielten Billard, Tavla und Karten und interessierten sich für Fußball, während mir außer Musik und Literatur alles einerlei war. Tag und Nacht las und musizierte ich nur, ein anderes Leben hatte ich nicht.
Diese einsame Existenz fern von Gleichaltrigen führte durchaus zu Problemen. »Unser Zülfü hat zu viel Phantasie,« sagte mein Vater immer. Tatsächlich lebte ich in einer imaginären Welt, neugierig auf ferne Gegenden und das Leben anderer. Ich wollte das abenteuerliche Dasein meiner Bücherhelden führen, fern von Ankara, dieser dunklen, engstirnigen Bürokratenstadt. Wie auf Borges übten auch auf mich fremde Ortsnamen eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Das alles führte dazu, dass ich von Zuhause, von der Schule, vom Alltagsleben abgekoppelt dahinlebte und nach schlaflosen Nächten müde und erschöpft war.
Ein Erlebnis von damals geht mir nicht aus dem Sinn und lässt mich auch heute noch immer wieder aus dem Schlaf fahren. Bei jeder Erinnerung daran schäme ich mich erneut. Im Dachboden unserer Schule wimmelte es von Tauben. Wir sahen sie durch ein Loch hinein- und herausfliegen und hörten sie gurren. Manchmal wurden wir auch von Taubenkot erwischt, was als gutes Omen galt. Eines Tages schlug ein Schüler vor, wir sollten in den Dachboden hinauf, das Schlupfloch verstopfen, eine Anzahl der Tiere in einen Sack stecken und danach ein Picknick mit gebratenen Tauben veranstalten. Vor lauter Abenteuerhunger war ich natürlich sofort dabei. An einem Sonntag, als niemand in der Schule war, stiegen wir also auf den Dachboden, der voller Tauben war. Manche flatterten herum, andere liefen durch den weißen Kot. Als das Loch verstopft war, stürzten wir uns auf die Tauben.
Dann geschah das Schreckliche. Ich sah mit an, wie meine Kameraden, sobald sie eine Taube gefangen hatten, ihr den Kopf abrissen und den bluttriefenden Körper in den Sack steckten. Die Taubenhälse streckten und dehnten sich dabei zu unglaublicher Länge, bis sie schließlich rissen. Ich begann zu zittern, was ich aber meinen Kameraden nicht zeigen wollte, da sie mich sonst wohl verspottet hätten. Ich sah daher weg, versuchte mir mein Entsetzen nicht anmerken zu lassen und tat so, als ob auch ich hinter den Tauben her wäre. Es war wie verhext: Einer der dummen Vögel lief mir geradewegs in die Hände. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Meine herzlosen Kameraden riefen mir zu: »Worauf wartest du denn? Reiß ihr den Kopf ab!« Als Feigling wollte ich nicht gelten, also begann ich an dem Kopf zu ziehen. Der Hals streckte sich immer weiter in die Länge, und die Flügelschläge der Taube glaubte ich in meinem Herzen zu spüren. Ich fühlte, wie sie litt, und warf sie schließlich von mir. Meine Kameraden sahen mich verwundert an. Ich weiß noch, dass wir dann irgendwo außerhalb der Stadt picknickten, obwohl gar kein Wetter dazu war. Wir retteten uns vor dem Regen unter eine Brücke und brachten mit nassen Zweigen mit Müh und Not ein Feuer zustande. Meine Kameraden rupften die Tauben und brieten sie über dem Feuer. Es stank nach Rauch und verbrannten Federn. Von den dürftigen Fleischstückchen rührte ich keines auch nur an. Wir ließen eine Flasche billigen Wein herumgehen, der uns die Lippen rot färbte. Was wir da abhielten, war alles andere als ein Picknick, und meinem Umgang mit jenen Kameraden war ein baldiges Ende gesetzt. Zu Hause verfluchte ich mich für das, was ich getan hatte. An Hemingways Afrikaabenteuern und blutigen Stierkämpfen war mir die Lust
Weitere Kostenlose Bücher