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Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Titel: Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zülfü Livaneli
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rief ich. Da drehte er sich um, und ich sah seine blutunterlaufenen Augen.
    »Sie ist tot«, sagte er. Dann umarmte er uns und brach in Tränen aus.
    Wir konnten es nicht glauben. Wie konnte diese hübsche Frau so früh von uns gehen? Sie hatte an keinerlei Krankheit gelitten, und was die Ärzte an Erklärungen vorbrachten, blieb höchst unbefriedigend. Unsere Mutter sei einem Herzinfarkt erlegen, wie er nur äußerst selten vorkomme. Vom Medizinischen her blieb ihr Tod ein Rätsel.
    Am Boden zerstört fuhren wir nach Hause. Mir sind noch Seyhans Entsetzensschreie in Erinnerung und das Bild des kleinen Ferhat, der sich vor lauter Verzweiflung unter dem Bett verkroch.
    Obwohl ich ansonsten kaum etwas vergesse, hat sich mir außer den Schreien und Ferhats Verstecken nichts von dem bewahrt, was an dem Abend sonst noch geschah. Irgendwann fuhr ich zu mir nach Hause und schlief dort sofort ein. Obwohl ich mein Leben lang mit Schlaflosigkeit zu kämpfen habe, fiel ich an jenem Abend augenblicklich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
    Meine Mutter hatte ihren Vater, also meinen Großvater Asım, sehr geliebt. Nach dessen Tod hatte sie lange getrauert und immer wieder den Wunsch geäußert, einmal neben ihm begraben zu werden. So holten wir am folgenden Tag den Sarg mit meiner Mutter aus dem Krankenhaus ab und luden ihn auf einen Pickup, dem wir in einem anderen Auto bis nach Ilgın folgten. Während der stundenlangen Fahrt starrten meine Geschwister und ich andauernd auf den vor uns herfahrenden Sarg. In Ilgın selbst ging es dann furchtbar traurig zu. Meine Großmutter weinte und sang eine Totenklage. Die Familienmitglieder trauten einander kaum in die Augen zu sehen, als hätten sie eine große Schuld begangen und sich mit Schande beladen. Mein Vater, dem die Beherrschung seiner Gefühle zur Lebensart geworden war, ließ alles mit versteinertem Gesicht über sich ergehen, doch wenn er nur mit uns Kindern zusammen war, weinte er sofort los.
    Mit einer schlichten Trauerfeier wurde meine Mutter neben ihrem Vater zur Ruhe gebettet.
    Ich habe viel darüber nachgedacht, was meine Mutter wohl umgebracht hat; vermutlich war es ein Übermaß an Aufregung. Sie war in einer anatolischen Kleinstadt aufgewachsen und durch die sehr frühe Heirat mit einem Staatsanwalt in ferne Städte und ihr unvertraute Kreise geraten. Mein Vater stieg die Karriereleiter hoch, und ihr als Frau wurde damit immer mehr Ansehen zuteil, doch bürdete ihr das eine ungewohnte und ungeliebte Rolle auf. Trotz der vier kurz aufeinanderfolgenden Entbindungen hatte sich ihre Schönheit erhalten, und dennoch war sie im Umgang mit Menschen denkbar unsicher. Sie vermochte kaum Beziehungen aufzubauen und war leicht zu verletzen.
    Mein Vater erzählte uns später, während seiner Amtszeit im westanatolischen Muğla habe unsere Mutter einmal notgedrungen einer Versammlung von Frauen beigewohnt, die ihr samt und sonders mit größter Achtung begegnet seien. Die Frauen hätten ihr die Hand geschüttelt, ihr schließlich einen Platz zugewiesen, und dann habe die Erste sie gefragt: »Wie geht’s?«, allerdings im Dialekt von Muğla, der meiner Mutter fremd war. Sie verstand vielmehr: »Wo sind Sie?« und antwortete etwas verdutzt: »Hier bin ich!«. Daraufhin stellte die nächste Frau die gleiche Frage, und so kam es, dass meine Mutter knapp vierzig Frauen beschied, dass sie hier sei.
    Manchmal fühlte sich meine Mutter durch Bemerkungen anderer Beamtenfrauen beleidigt und ärgerte sich, nicht schlagfertig genug zu sein. »Das hätte ich sagen sollen! Oder das!«, grämte sie sich dann. Ich denke nicht, dass sie sich die Kränkungen alle nur einbildete. Es ist in der Türkei durchaus üblich, mit spitzer Zunge zu reden und sich etwas härter anzugehen, doch hat jeder seinen Schutzpanzer, an dem so etwas abprallt. Meine arme Mutter hatte keinen und war daher schnell verletzt.
    So richtig zu sich selbst fand sie eigentlich nur, wenn sie in den Sommerferien mit uns Kindern in ihr Elternhaus fuhr. Dort wurde sie ein anderer Mensch, zog sich alsbald von der Staatsanwaltsgattin zur Bäuerin um, ging in den Pappelhain, in den Garten (in den wir ihr nachliefen, auch wenn unsere Großmutter rief: »Wenn ihr auf die Wurzeln von den Gurken steigt, werden sie bitter, dann könnt ihr was erleben!«), atmete so richtig durch und war fröhlich. Ansonsten spielte sich ihr Leben in der Fremde ab, denn bei uns zu Hause herrschten nicht die Traditionen ihrer Familie vor, sondern die von der

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