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Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Titel: Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zülfü Livaneli
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vergangen. Mir war überdeutlich geworden, dass ich fürs Heldentum nicht geschaffen war, und ich hatte noch lange mit Schuldgefühlen zu kämpfen.
    Der Zorn der Tauben sollte mich bis in meine ersten Ehejahre hinein verfolgen. Mein schwaches Nervenkostüm ließ mich immer wieder in Krisen schlittern. Zu meinen seelischen Erschütterungen gesellte sich dann oft genug die Erinnerung an jene Tauben. In manchen Nächten schreckte ich aus dem Schlaf, weil ich wieder den Geruch von Rauch und Federn in der Nase hatte. Ich fühlte mich, als wäre mir ein Stromstoß durch den Körper geschossen. In meinen Fingern kribbelte es, und ich war unfähig, mich zu bewegen. Noch dazu bekam ich nicht den leisesten Ton heraus. Ich war wie aus Stein. Manchmal lag meine Frau Ülker wach neben mir, doch ich schaffte es nicht, sie auf mich aufmerksam zu machen. Sie merkte nichts von meinem Zustand und wähnte mich schlafend. Wie ein Gelähmter lag ich neben ihr.
    Überhaupt habe ich seit jeher ein problematisches »Nachtleben«. Wenn ich Bekannten davon erzähle, wie intensiv ich bis in den Morgen hinein lebe, mit wie vielen Menschen im In- und Ausland ich unterwegs bin und wie sehr ich mich amüsiere und freue, aber auch leide und zage, dann sehen sie mich nur zweifelnd an. »Na hör mal, wir kennen dich doch! Fürs Ausgehen bist du kaum zu haben. Als wüssten wir nicht, dass du am liebsten brav zu Hause sitzt.« Dass jemand zu Hause bleibt, heißt aber noch lange nicht, dass er kein aufregendes Nachtleben hat.
    Bulgakows Margarita sitzt auch nur zu Hause herum, aber eines Nachts packt der Teufel sie am Arm, zerrt sie in den Himmel hinauf und lässt sie über Städte, Seen und Flüsse hinwegfliegen. Mein eigenes Nachtleben bleibt hinter dem von Margarita keineswegs zurück. Ich reise genauso viel herum wie sie und bin am Morgen hundemüde.
    Schon seit meiner Kindheit ist mir unbegreiflich, wie man abends zu einer bestimmten Stunde seinen Geist einfach ausschalten und schlafen kann. Es gibt ja Menschen, die schon einschlafen, wenn sie das Kopfkissen noch nicht einmal berührt haben; für mich ist das ein kleines Wunder. Wie kann man nur mit tausend Gedanken ins Bett gehen und dann einfach den Schalter umlegen?
    Da ich mich darauf nicht verstehe, agiert das Kopfkissen, auf das ich mich notgedrungen bette, nicht anders als die Zeitmaschine von H.G. Wells und schickt mich in Raum und Zeit herum. Dann jagen sich Bilder, Gedanken, Melodien, Verse, Romanideen, Personen, Geschehnisse. Mal schickt mich das Kopfkissen nach Stockholm, mal nach Athen, bald in eine Gemeinschaftszelle im Gefängnis von Ankara, bald zu einem Abendessen mit Freunden, die längst verstorben sind. Vor meinem inneren Auge ziehen Menschen vorbei, Lebensfetzen, Freund- und Feindschaften. Aus irgendeinem Bild wird eine Erzählung, aus einer Tonfolge eine neue Melodie. Auf dem Nachttisch liegt immer Papier bereit.
    So wie einen der Schlaf überkommt, so überkommt einen auch die Schlaflosigkeit. Und das tut sie auch, wenn man es tatsächlich geschafft hat, endlich einzuschlafen. Sie kommt und weckt einen auf. Nehmen wir an, man hat den ganzen Tag lang nichts Coffeinhaltiges getrunken, hat früh und leicht zu Abend gegessen, keinen aufregenden Film und nicht einmal die Nachrichten gesehen und große Mengen Baldriantee getrunken. Womöglich hat man sogar ein leichtes Beruhigungsmittel eingenommen und sich dann gegen Mitternacht mit einem Buch ins Bett gelegt. Dann liest man, bis die Zeilen allmählich verschwimmen und einem das Buch aus der Hand rutscht. Man knipst also das Nachttischlämpchen aus und überlässt sich den tiefen, dunklen Wassern des Schlafes.
    Was erwartet man dann? Nun, dass man die Belohnung für diesen ganzen Aufwand erntet und acht Stunden durchschläft.
    Der Schlaf aber, der andere umhüllt wie eine unsichtbare Zauberdecke, wird mir zu einer Zwangsjacke, die mich zu ersticken droht. Wenn ich mich freizustrampeln suche, kommt – bestimmt – die Schlaflosigkeit. Herrisch tritt sie auf, wild entschlossen, den wankelmütigen König Schlaf von seinem Thron zu stoßen und ihr nächtliches Reich mit niemandem zu teilen.
    Wenn die stolze Königin Gewalt über mich hat, regiert sie bis tief in den Morgen hinein mit unerbittlicher Härte. Für Bitten und Flehen, völlige Erschöpfung, Nadelstiche im Gehirn und blutunterlaufene Augen hat sie keinerlei Verständnis.
    Die einzige Form des Widerstands gegen dieses grausame Regime sind kleine weiße Pillen. Diese sind

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