Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
Vaterseite her. So sollte sie uns etwa lauter osttürkische Gerichte mit viel Weizengrütze kochen, während jene besondere Hühnersuppe, wie sie in Ilgın zubereitet wurde, weder mein Vater noch wir Kinder mochten. Die Suppe wurde nach einem komplizierten Rezept gekocht, und wenn meine Mutter das einmal pro Jahr tat und die Suppe dann alleine am Tisch in sich hineinlöffelte, dann wohl aus Respekt vor ihren eigenen Traditionen.
Die Familien meines Vaters und meiner Mutter verstanden einander nicht. Zwischen der ostanatolischen Beamtenfamilie und der mittelanatolischen Bauernfamilie war der Gegensatz zu groß. Mein Großvater Asım arbeitete zwar als Anwalt, aber durch die verpachteten Grundstücke, Herden und Gemüsegärten war er wohlhabend und damit erst recht misstrauisch gegenüber der Bürokratie geworden. In mir sahen insbesondere meine Großmutter mütterlicherseits und meine Tanten den Liebling der anderen Großmutter und damit gleichsam einen Spion ihrer Familie. Zu Sommeranfang schrieben sie meiner Mutter manchmal: »Kommt, aber bringt Zülfü nicht mit!« Dass mein Vater uns einmal in den Sommerferien auf seine Inspektionsreise nach Çorum mitnahm, wo ich den Saz-Meister kennenlernte, geschah aus diesem Grund.
Meine vielfach geplagte Mutter machte sich in ihrem letzten Lebensjahrzehnt viele Sorgen um ihre Gesundheit. Jeden Morgen hielt sie meine Hand an ihren Bauch und fragte mich: »Fühlt er sich kalt an?« Ich verneinte, und darauf streckte sie ihre Zunge heraus: »Ist sie belegt?« Als wir Kinder noch ganz klein gewesen waren, hatte sie schlimme Nierenschmerzen gehabt, und schließlich war ihr eine Niere entfernt worden. Kurz vor ihrem Tod trank sie auf irgendjemandes Anraten hin tagelang nur noch Milch. Jemand hatte ihr eingeredet, wenn sie nichts esse und viel Milch trinke, könne sie ihre Gesundheit verbessern. Wer weiß, vielleicht hatte neben der Überempfindlichkeit auch diese merkwürdige Diät ihren Anteil an ihrem frühen Tod.
Wir fuhren nach Ankara zurück. Ich konnte mir noch immer nicht erklären, wie die beiden so lebensfrohen Familien in kurzer Folge derart niedergeschmettert werden konnten. Mir war, als hätte uns der Flügel eines verwünschten Vogels gestreift.
Währenddessen ging es in der Türkei auf Parlamentswahlen zu, und wir liefen auf alle möglichen Versammlungen. Es war eine neue Partei gegründet worden, die Türkische Arbeiterpartei, deren Vorsitzendem Mehmet Ali Aybar wir zujubelten, da wir an den von ihm gesteckten Zielen keine Zweifel hatten. Wir waren alle Brüder, strebten nach weltweiter Solidarität und waren uns ganz sicher, dass wir den Sozialismus aufbauen würden. Im Radio rief Yaşar Kemal, der Autor von Memed mein Falke , mit tönender Stimme zum Bündnis von Arbeitern und Bauern auf.
Wir lasen in einem fort und sogen jegliche Art marxistischer Literatur in uns auf. Die junge Generation erlebte eine Art Kulturschock: Es wurden Theater gegründet, die politische Stücke aufführten, Volkssänger gaben Konzerte vor Tausenden von Zuhörern, und über eine Flut von neuen Büchern strömte linkes Gedankengut über uns herein. Selbstverständlich waren wir auch gegen den Vietnamkrieg. Auf Podiumsgesprächen an Universitäten wurde der amerikanische Imperialismus angeprangert. Am von Bertrand Russel initierten internationalen »Russel-Tribunal« zur Untersuchung amerikanischer Kriegsverbrechen in Vietnam beteiligte sich auch Mehmet Ali Aybar, worauf wir ganz besonders stolz waren. Unser bis dahin im Stillen gehegtes Streben nach einer neuen geistigen Welt entwickelte sich zu einer Massenbewegung.
Nach seiner Rückkehr vom »Russel-Tribunal« organisierte Mehmet Ali Aybar eine Veranstaltung in einem großen Hörsaal in Ankara. Ich konnte nicht daran teilnehmen, doch mein Bruder Asım ging hin. Als aber Bilder von Folterungen über die Leinwand liefen, fiel Asım in Ohnmacht und musste hinausgetragen werden.
Diese Art von Empfindlichkeit ist in unserer Familie weit verbreitet. Als ein befreundeter Schreiner sich bei der Arbeit schlimm in die Hand schnitt, brachte ich ihn ins Krankenhaus. Während der Arzt die Wunde nähte, sollte ich meinem Freund die Hand halten. Als Letztes kann ich mich an eine Hitzewallung erinnern, die mir vom Bauch aus in den Kopf stieg. Als ich wieder zu mir kam, hatten Arzt und Krankenschwester von meinem Freund abgelassen und waren allein mit mir beschäftigt. So etwas sollte mir noch öfter widerfahren.
Einmal saß ich mit Ülker und
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