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Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Titel: Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zülfü Livaneli
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meinem Bruder Ferhat in Istanbul im Kino. Als in dem Film einem Kriegsheimkehrer ein Bein amputiert wurde, stand Ferhat plötzlich auf und ging hinaus. Kurze Zeit darauf kam die Platzanweiserin mit ihrer Taschenlampe in den Saal und fragte, ob jemand den ohnmächtigen Jungen draußen kenne.
    Ich weiß nicht, ob für die Empfindlichkeit gegenüber Gewalt bei meinen Geschwistern und mir nicht vielleicht sogar eine genetische Veranlagung vorliegt. Beim Opferfest verursacht mir allein schon der Gedanke, dass Tausende von Tieren abgeschlachtet werden, große Pein, und Menschen, denen Gewalt als etwas völlig Normales gilt, kann ich einfach nicht begreifen. Es müsste doch eigentlich jeder Mensch auf Gewalt mit Abscheu reagieren. Ich frage mich, ob durch gewisse regionale Traditionen und kulturelle Prägungen nicht eine Immunisierung gegenüber Gewalt stattfindet.
    Im Rückblick auf jene politisch bewegten Jahre muss ich mich einer gehörigen Portion Naivität zeihen: Linke waren für uns damals weltweit gute Menschen, konnten kein Blut vergießen und waren durchweg gebildet. Der großen Bewegung hatten sie sich aus Menschenfreundlichkeit und Sehnsucht nach Kultur angeschlossen. Ein Linker konnte nichts Böses tun und nicht lügen, konnte weder grob sein noch unsolidarisch.
    Wir wussten damals leider nicht, dass der Sozialismus nicht ausreicht, um Primitivität zu überwinden. Keine Ideologie ist in der Lage, die in der Gesellschaft vorhandene Dumpfheit und Gewaltbereitschaft auszurotten, denn jede Gesellschaft wird sich eine Ideologie auf andere Weise aneignen. Deshalb ist auch der Sozialismus in Kambodscha nicht der gleiche wie der in Libyen oder der in Frankreich, und diese Unterschiede bleiben bestehen. Die Ideologie verändert den Grundcharakter eines Landes nicht, sondern ganz im Gegenteil schneidert das Land sich die Ideologie zurecht. Die stalinistische Komponente des Sozialismus sollte der türkischen Gewalttradition sehr entgegenkommen, und bei vielen linken Gruppierungen dominierten viel eher Roheit und Streitlust als Empathie und Sensibilität.
    Als ich später Tolstois Auferstehung las, in der der Romanheld seiner Geliebten in die Verbannung nach Sibirien folgt und in den dortigen Häftlingslagern den frührevolutionären Dekabristen begegnet, beschäftigte mich ein Kapitel besonders. Darin lässt Tolstoi seinen Protagonisten die Beobachtung machen, dass sich die Gruppe der Revolutionäre aus den besten und schlechtesten Vertretern der Gesellschaft zusammensetzt. Es sind engelsgleiche Gestalten darunter, aber auch ausgemachte Schurken.
    Diese beiden Grundtypen werden von der Dekabristenbewegung angezogen wie von einem Magneten. Aus meiner eigenen Erfahrung heraus kann ich Tolstoi nur Recht geben. Ich habe innerhalb der Linken sowohl grundgütige, aufrechte Menschen gesehen als auch gierige, klatschsüchtige Leute, die ihre eigenen Kameraden nicht mochten und womöglich überhaupt niemanden auf der Welt außer sich selbst. Von meinem Freund Louis de Bernières habe ich ein geflügeltes Wort aus Lateinamerika: »Wenn Linke ein Erschießungskommando bilden, stellen sie sich im Kreis auf.« – Überaus treffend!
    Dabei verspürten wir doch damals die Kraft in uns, die Welt schöner und lebenswerter zu gestalten. Ja, wir würden die Welt verändern. Ülker und ich trauerten zwar damals, aber wir erlebten auch Tage voller Brot und Wein und Rosen. Und dann kam noch ein Farbtupfer hinzu: Es war ein Baby unterwegs.
    Damit war ich zum ersten Mal von Geldsorgen geplagt. Ich würde Vater werden, also brauchte ich Geld. Ich nahm eine Stelle bei dem deutschen Pharmaunternehmen Merck an, für das ich nach Trabzon ziehen und dort die Vertretung für die türkische Schwarzmeerregion übernehmen sollte.
    Eines Sonntags um halb zwei hielt ich mein neugeborenes Kind auf dem Arm. Ich hatte mir ein Mädchen gewünscht, und es war ein Mädchen geworden. Sie wirkte so klein und zerbrechlich, dass ich mich nicht einmal traute, sie zu küssen. Ich beugte mich nur zu ihrem Ohr und flüsterte: »Danke, Aylin!« Diesen Namen hatten wir schon Monate zuvor ausgesucht.
    Wenige Tage nach Aylins Geburt packte ich meine Sachen zusammen. Ich sollte mit einem Lastwagen nach Trabzon fahren und dort eine Wohnung mieten. Die noch nicht reisefähige Ülker sollte inzwischen bei meinem Vater wohnen und später mit dem Baby nachkommen. Ich wurde von Ülkers Großmutter Zeynep begleitet, die mir in der ersten Zeit behilflich sein sollte. Sie erzählte

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