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Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Titel: Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zülfü Livaneli
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einer Grippe ein Antihistaminikum genommen, das bei mir eine schwere allergische Reaktion ausgelöst hatte. Meine Zunge war angeschwollen, die Halsmuskeln ganz starr geworden, und ich hatte vor Schmerz kaum sprechen können.
    Dieses Medikament ließ ich mir wieder besorgen. Sollte ich zum Verhör abgeholt werden, würde ich sofort eine Tablette davon schlucken und etwa eine halbe Stunde später deren Wirkung verspüren. Die Reaktionen meines Körpers würden die Dauer der Folter vielleicht verkürzen.
    Tagelang wartete ich. Schließlich wurde eines Morgens tatsächlich mein Name verlesen, und ich nahm sofort eine Tablette ein. Der seit acht Tagen voller Entsetzen erwartete Moment war da. Meine Kameraden sagten nichts, sondern klopften mir nur auf den Rücken und drückten mir die Hand. Mir wurden Handschellen angelegt und die Augen verbunden, dann ging die Fahrt los.
    Schon im Auto zeitigte das Medikament die erste Wirkung. Während ich von der Fahrt durchgeschüttelt wurde, durchzuckte es mir Hals und Kehle. Das wurde mit der Zeit immer schlimmer, und als wir ankamen und ich in den Verhörraum gebracht wurde, war ich bereits halb vernehmungsunfähig.
    Zwei Männer in Zivil kamen herein. Der eine war schmächtig, trug einen blauen Anzug und eine schwarz umrandete Brille und hatte das Gesicht voller ausgetrockneter Pickel. Der andere war ein kräftiger Kerl mit einer derben Ausdrucksweise. Zunächst stellten sie mir ein paar Fragen über die Flugzeugentführung und eine verbotene Organisation, die ich angeblich mitgegründet haben sollte. Ich bekam nur mit Müh und Not eine Antwort heraus. Der Schmächtige fragte mich, was ich denn habe, und ich behauptete, ich sei herzkrank.
    »Das ist doch bloß Theater! Den bringe ich schon zum Reden«, rief der Kräftige.
    Die beiden spulten eine Billigvariante von guter Polizist – böser Polizist ab. Sie stellten mir noch ein paar Fragen, aber ich merkte ihnen an, dass sie nicht richtig bei der Sache waren. Ich war einige Zeit nach meinen Kameraden dran, und inzwischen war schon ersichtlich, dass die Vorwürfe wegen der Flugzeugentführung haltlos waren. Das Verhör mit mir war nur noch Formsache und reine Drohgebärde.
    Der Schmächtige erzählte auf einmal, er sei eigentlich ein in Erzurum stationierter Militärarzt und für diese Verhöre eigens nach Ankara gebracht worden. »Ich bin ein Fachmann«, sagte er. Dann äußerten sich die beiden noch negativ über die Allende-Regierung in Chile. Das Verhör dauerte noch eine Weile an, aber ich konnte mich schon gleich danach an viele Einzelheiten nicht mehr erinnern. Entweder mein Verstand verweigerte sich, oder es lag einfach an der Wirkung des Antihistaminikums, das mich in ein Delirium versetzte.
    Der Kräftige war immer dafür, bei mir Gewalt anzuwenden, was aber der Schmächtige nicht zuließ. Ich erzählte ihnen, dass ich von der Flugzeugentführung aus dem Autoradio erfahren hatte; wie sollte ich also damit etwas zu tun haben? Ich brachte jeden Satz nur ganz mühsam heraus und muss wohl tatsächlich einer Bewusstlosigkeit nahe gewesen sein. Irgendwann ließen sie von mir ab. Gefoltert hatten sie mich gar nicht. Warum ich so glimpflich davonkam, sollte später bei einem Verhör mit dem Staatsanwalt deutlicher werden.
    Dieser war ein junger Hauptmann namens Muhteşem Savaşan. An der Art, wie er mich nach der Flugzeugentführung fragte, merkte ich gleich, wie wenig er selbst von der Sache überzeugt war. Da fasste ich mir ein Herz und probierte es mit einem Witz: »Na ja, ich hatte das Flugzeug verpasst, da habe ich es eben entführt.« Das konnte mich teuer zu stehen kommen, aber vielleicht wurde auch klar, wie absurd die Vorwürfe waren. Nun, der Staatsanwalt lächelte leise. Er glaubte also selbst nicht an den Unsinn.
    Jahre später sollte Erdal Öz mit jenem Staatsanwalt einmal zusammentreffen. Dieser schilderte Erdal, ihm sei damals ziemlich zugesetzt worden. Wir seien ihm als Flugzeugentführer dargestellt worden, und es sei seine Aufgabe gewesen, uns den Prozess zu machen. Zur Vorbereitung der Anklageschrift habe er die Akten und die Verhörprotokolle studiert. Er habe festgestellt, dass es keinerlei Anhaltspunkte gab, und sei daraufhin zum Militärkommandanten von Ankara gegangen. »Diese Leute haben mit der Flugzeugentführung nicht das Geringste zu tun. Ich kann unmöglich eine Anklageschrift verfassen.«
    Der General sei wütend geworden. »Sie sind ja wie ein Feldherr, der den Krieg von vornherein aufgibt.

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