Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
eingefallen ist: Sie haben mir die Kabel direkt in die Wunde gesteckt.«
Dann schüttelte er sich vor Lachen, bis ihm die Tränen kamen.
Ich habe in dem Militärgefängnis einiges über die menschliche Seele gelernt, aber das Interessanteste war wohl, dass einige von uns, um nicht verrückt zu werden, einen Humor entwickelten, der ihren Schmerz ins Surreale enthob. Einer erzählte, während die Folterer seine Hoden mit Strom bearbeiteten, hätten sie mit Fleisch gefülltes Fladenbrot gegessen und sich ausführlich darüber unterhalten, bei welchem Kebabverkäufer das beste zu bekommen sei und wie hoch im Idealfall der Zwiebelanteil zu sein habe. Ein anderer berichtete, wie sehr er sich während der Folter über den Kanarienvogel geärgert habe, der in einer Ecke in seinem Käfig herumflatterte. Der Vogel habe ihn daran erinnert, wie schön doch die Welt da draußen sei, und ihn damit zu unsinnigen Hoffnungen verleitet, die seinen Schmerz nur intensivierten.
Ein Kamerad war nach seiner Verhaftung zunächst in der Gendarmeriewache von Akseki in der Provinz Antalya festgehalten und dort von ein paar Gendarmen tagelang gefoltert worden. Er erzählte schier Unglaubliches. Die Männer hatten an dem armen Menschenkörper ihre niedrigsten Instinkte ausgelebt. Und dennoch: Bald ging durch die Zelle das geflügelte Wort: »Gnade dem Gott, der in die Gendarmeriewache von Akseki gerät!«, und jedes Mal, wenn einer es sagte, lachten alle los wie die Verrückten.
In dem Bett über mir lag Ömer Madra, der bereits schwer gefoltert worden war, und sagte, falls sie ihn noch einmal »dorthin« brächten, würde er den Verstand verlieren. Die Untersuchungshaft betrug maximal 30 Tage, und Ömer war schon 33 Tage hier. Es gab keinen legalen Grund mehr, ihn noch festzuhalten, und dennoch ließen sie ihn nicht frei.
Eines Abends hieß es dann aber doch: »Ömer Madra, Entlassung!«. Ömer wurde ganz rot vor Aufregung. Während er seine Sachen zusammenpackte, bat ich ihn, meine Telefonnummer auswendig zu lernen, damit er Ülker anrufen und ihr sagen könnte, dass es mir gut ginge. Voller Freude verabschiedeten wir ihn. »Trink heute Abend einen Rakı für uns!«
Kaum war Ömer jedoch draußen, fuhr ein schwarzes Auto heran, und er wurde wieder verhaftet. Es begann für ihn eine neue Runde in den Händen der Kontrgerilla.
Eines Morgens wurde unsere Zelle von einem General inspiziert, einem hochgewachsenen, gut aussehenden Mann in tadellos sitzender Uniform. Der General war sorgfältig rasiert, und der Duft seines Rasierwassers verbreitete sich in der Zelle. Er drückte sich gewählt aus und lächelte ununterbrochen.
Wir standen in Reih und Glied vor ihm. »Hat jemand etwas zu beanstanden?«, fragte er betont freundlich.
Dann wandte er sich zu dem Major neben sich: »Die Wände sehen ja furchtbar aus. Lassen Sie sie streichen! Wir haben Intellektuelle hier, Leute mit Abitur und Studium, die sollen es hier nicht schlecht haben.«
Und schon war er wieder draußen.
Wir waren empört. Leuten waren die Hoden gequetscht worden, man hatte sie bis zum Hals begraben, sie wie Emil Galip drei Tage lang an den Armen aufgehängt oder ihren Geschlechtsteilen Stromstöße versetzt, und da sollten sie keine anderen Sorgen haben als die splitternde Farbe an den Zellenwänden?
Oft sangen wir gemeinsam. Als wir eines Tages ein Lied über den Berg Ilgaz anstimmten, wurde auf einmal die Zellentür aufgerissen, Soldaten stürmten herein und prügelten auf uns los. »Maul halten! Maul halten!«, riefen sie. Etwas später kam der Major und sagte: »Hier werden keine kommunistischen Märsche gesungen!« Wir versuchten ihm zu erklären, dass es sich keineswegs um etwas Kommunistisches, sondern um ein Volkslied handelte, aber er hatte kein Einsehen.
»Hören Sie doch mal genau hin!«, sagten wir und sangen ihm das Lied, in dem wirklich nur von Bergen und Natur die Rede war, noch einmal langsam und deutlich vor. In seiner Paranoia ließ er sich den Text schriftlich geben und zog erst dann grummelnd davon.
Ich wartete immer noch Tag und Nacht jede Minute darauf, abgeholt zu werden. Jeden Morgen war ich mir sicher, dass diesmal mein Name auf der Liste stehen würde, aber jedes Mal täuschte ich mich.
D a kam mir ein Gedanke. Ich wusste nicht, ob es die Folterer etwas scherte, wenn eines ihrer Opfer zu Tode kam, doch konnte es ja sein, dass solche Anzeichen ihren Eifer zügelten, und zumindest das wollte ich erreichen. Ich hatte kurz zuvor wegen
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