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Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)

Titel: Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zülfü Livaneli
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dass mir gar nicht der Sinn nach einem Interview stand. Ülker bestand aber darauf, dass ich hinfahren sollte, und so machte ich mich am Abend auf den Weg. Am Flughafen sah ich dann, wie die mit der türkischen Maschine Eintreffenden von ihren Angehörigen empfangen wurde, aber von Turan Güneş gab es keine Spur. Unverrichteter Dinge kehrte ich zurück. Später ging mir auf, dass ich aus lauter Unerfahrenheit und Sorge nicht an die VIP -Lounge gedacht hatte; über die nämlich war Turan Güneş abgefertigt worden, während ich in der Ankunftshalle gewartet hatte.
    Als Ecevit dann selbst eintraf, konnte ich aber mit ihm sprechen, und kurz darauf brachte ich es zu einem Interview mit dem schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme, der betonte, er wolle mit Ecevit auch nach dessen Rücktritt noch weiter zusammenarbeiten.
    Ecevit wurde von einer großen Anzahl türkischer Journalisten begleitet, die ich eines Abends zusammen mit Turan Güneş in unsere bescheidene Wohnung lud. Ülker hatte die Operation glücklich überstanden und war wieder zu Hause. Sie war noch bleich und schwach, aber von unseren Gästen ging eine solche Energie aus, dass sie lange mit uns zusammensaß.
    Turan Güneş trank Rakı und konnte sich über Schweden nur wundern. »Acht Millionen fügsame Einwohner, jede Menge Platz, eine hochentwickelte Industrie. Bei uns ist jede Stadt schwerer zu regieren als hier das ganze Land.«
    Auf Orhan Durus Drängen hin griff ich schließlich zur Saz, und wir verlebten einen unvergesslichen Abend. Turan Güneş sang bei den Liedern lautstark mit, stand dann auf und tanzte und erzählte freizügige Witze.
    Die Feier dauerte bis zum Morgen. Orhan Duru nahm alles auf und ließ von der Kassette mehrere Kopien anfertigen, die er dann in Ankara verteilte, unter anderem an Bülent Ecevit. So wurde über den Abend noch ziemlich lange geschmunzelt.

 
    M   eine innere Stimme riet mir allmählich, ich müsse zurück in die Türkei. Dort sei mein Platz, und jeder weitere Tag in Schweden sei im Grunde genommen ein verlorener Tag. Das Gefühl der Sicherheit, das ich zu Anfang so genossen hatte, war einer brennenden Sehnsucht gewichen.
    Ich erkannte nun viel deutlicher die Makel des schwedischen Gesellschaftssystems, das mir zunächst so perfekt erschienen war. Die Beziehungen der Schweden untereinander krankten daran, dass sich unter den seit mehr als 40 Jahren herrschenden Sozialdemokraten der Staat viel zu sehr ins Privatleben einmischte. Da die Menschen sich gegenseitig nicht mehr brauchten, suchten sie einander auch nicht. Keiner hatte es nötig, sich vom anderen Geld auszuleihen, da man sich im Notfall direkt an den Wohlfahrtsstaat wandte. Selbst die Beziehungen zwischen Ehepartnern oder zwischen Eltern und Kindern litten unter der staatlichen Fürsorge. Es mangelte schlichtweg an Gelegenheiten, einem Mitmenschen etwas Gutes zu erweisen, und daraus ergab sich eine seltsame Entfremdung.
    Den Schweden war mit großem Propagandaaufwand eingeredet worden, sie seien das glücklichste, gesündeste und zivilisierteste Volk der Welt, so dass diese Grundannahme gar nicht mehr hinterfragt wurde. Auf den beiden reklamefreien Fernsehkanälen wurde bis zum Sendeschluss um zehn oder half elf gezeigt, wie arm und verworren es in Afrika, in Asien und im Nahen Osten zuging, damit der Schwede wieder einmal begriff, in was für einer ruhigen Gesellschaft er doch lebte.
    Die Schweden erschienen mir immer sonderbarer, und irgendwann kam ich auch dahinter, woran das lag: Es hatte in dem Land einen abrupten Übergang von einer bäuerlich geprägten zu einer industriellen Gesellschaft gegeben, und den Menschen haftete das Grobe an, das beiden Milieus innewohnte. Die Schweden waren direkt vom Acker auf den Asphalt getreten und hatten die Epoche des Bürgertums übersprungen. Um dies ideologisch zu unterfüttern, übte sich die Sozialdemokratie lange Zeit in der Verachtung sogenannter kleinbürgerlicher Werte. Dabei waren doch bürgerliche Angewohnheiten wie etwa, sich gegenseitig zum Essen einzuladen und dabei Blumen mitzubringen, geradezu das Salz in der Suppe des Lebens. Es konnte und durfte doch nicht alles nur aufgrund rationaler Erwägungen geschehen. Dieser »industrielle Nihilismus« war nichts für mich. Ich konnte mich nicht mit einer Welt anfreunden, deren Menschen auf mich derart genormt wirkten.
    Ich begann mich furchtbar nach der Türkei zu sehnen, nach fast allem dort. Wenn ich die Zeitungen aus Istanbul las, fühlte ich mich

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