Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
arbeitete mit dem Musiklehrer Hasse vom Dalcroze-Institut zusammen, der bei uns im Viertel wohnte, und absolvierte später an dem Institut eine Ausbildung, um meine Harmoniekenntnisse zu vervollständigen.
In gewisser Hinsicht war mir bange, denn was sich heute als harmloses Bemühen um Polyphonie anhört, wurde damals geradezu als Sünde angesehen. Die Saz als »Stimme Anatoliens« begleitete auf schlichte Weise alevitische Stücke wie auch revolutionäre Gesänge. Sie außerhalb dieses Rahmens zu verwenden galt als Sakrileg. Es mag heute seltsam klingen, aber der von linken Kreisen ausgeübte Druck ließ Entwicklungen wie die meinen eigentlich nicht zu. Auch schnelle und fröhliche Stücke waren verpönt. Weil der Rhythmus von »Comandante Che Guevara« so lebendig ist, wurde in Ankara darüber diskutiert, wie degeneriert doch die Kubaner seien; nicht einmal Trauerklagen vermochten sie zu singen.
Mein Bruder Ferhat und ich bereiteten für den schwedischen Rundfunk eine Sendung vor und nahmen dafür im Studio am Karlaplan Stücke auf, die von einer Akkustikgitarre und einer Saz begleitet wurden. Tagelang mühten wir uns ab, doch mit dem Ergebnis waren wir sehr zufrieden. Die Sendung hatte unverhofften Erfolg und wurde mehrfach wiederholt. Wir waren also auf dem richtigen Weg und fanden sogar bei westlichen Hörern Anklang.
Mich kamen damals zwei Volkssänger besuchen: Âşık Nesimi und Âşık Daimi. Nesimi war ein alter Freund von mir. Abend für Abend saßen wir zusammen, jeder mit seiner Saz, und spielten weitgehend unbekannte anatolische Lieder und Tänze. Von Daimi lernte ich andere Saz-Techniken und interessante Stücke, und Nesimi war eine unerschöpfliche musikalische Quelle. Alles, was wir spielten, nahm ich auf, und jene Bänder müssten heute irgendwo in Stockholm sein. Von den neuartigen Klängen waren wir begeistert. Unter dem Einfluss der beiden Männer, die über einen Monat in Stockholm blieben, nahm in meinem Kopf das neue Album allmählich Gestalt an. Ich würde jene tausend Jahre alte Musik den Menschen in harmonischem Gewand präsentieren.
Beide Âşıks leben heute nicht mehr. Daimi starb 1982, und Nesimi kam 1993 bei dem Brandanschlag in Sivas ums Leben. Wie weit sie mich in meiner musikalischen Entwicklung gebracht haben, werde ich diesen großartigen Menschen nie vergessen.
I ch hatte die Elemente meiner neuen Platte nun beisammen. Ich würde alevitische Lieder interpretieren und daran angelehnt poetische Texte aus Yaşar Kemals Roman Das Lied der tausend Stiere vertonen.
Bei den Mehrkanalaufnahmen, die ich zu Hause versuchsweise angefertigt hatte, waren interessante Harmonien herausgekommen. Außerdem hatte der in Stockholm lebende türkische Querflöten- und Ney-Spieler Hacı Tekbilek seine Mitarbeit zugesagt. Gerne hätte ich auch einen Kontrabass eingesetzt, aber zu so viel Innovation auf einen Schlag fehlte mir dann doch der Mut. Und was mir auch noch fehlte, war das Geld, um meine Platte überhaupt aufzunehmen und herauszubringen. In der Türkei, wo ich allmählich immer bekannter wurde, wäre mir das leichter gefallen.
Da kam mir mein Freund Dinç Gürs zu Hilfe, der mit seiner finnisch-schwedischen Frau Bambi italienische Produkte vertrieb. Mit ihm zusammen gründete ich eine kleine Plattenfirma mit dem Namen Anatolia.
In den Decibel Studios in Slussen begannen wir mit den Aufnahmen, die wir jeden Tag auf eine Kassette überspielten, um zu testen, was sich mit handelsüblichen Abspielgeräten für ein Klang ergab.
Doch irgendetwas stimmte mit den Aufnahmen nicht, und wir merkten erst kurz vor Ende, woran es lag. Der schwedische Tontechniker hatte die Stereokanäle nicht richtig eingestellt, so dass sich eine Phasenverschiebung ergab. Also suchten wir uns lieber ein anderes Studio und schlossen die Aufnahmen dort ab. Mit den in Stockholm gefertigten Plattenmatrizen fuhr Dinç nach Istanbul und brachte die Platte unter dem Titel Dem edlen Räuber kann die Welt nicht gehören heraus, dem Namen des Liedes also, das ich im Militärgefängnis von Hüseyin gelernt hatte. Die Plattenhülle wurde von meinem Schulkameraden Mehmet Sönmez gestaltet. In Stockholm erschien die Platte unter dem Titel Ballad of the Thousand Bulls .
Ein Künstler muss in sich einfach ein Grundvertrauen haben und darf sich von widrigen Umständen nicht aus dem Konzept bringen lassen; diese Erfahrung habe ich immer wieder gemacht. Bei meiner ersten Platte hatte ich erwartet, dass niemand in der
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