Roman mit Kokain (German Edition)
Höflichkeit fragte er genauer nach. Da erzählte ich noch einmal, schon ruhiger und sogar recht ausführlich, wie sich die Sache zugetragen hatte. Während ich also berichtete, geschah mit Burkewitz genau das, was ich einmal bei einer Partie zweier Schachspieler beobachtet hatte: Solange der eine angestrengt über dem Schachbrett nachdachte und dann einen Zug machte, schaute der andere nicht aufs Brett, sondern unterhielt sich, augenscheinlich enttäuscht oder empört, mit den umsitzenden Leuten und gestikulierte wild dabei. Man unterbrach ihn, sagte ihm, dass der Gegner einen Zug gemacht habe, da schwieg er und schaute wieder aufs Brett. Anfangs leuchtete in seinen Augen noch die Kette der Gedanken, die er nicht mehr hatte sagen können. Aber je länger er aufs Brett schaute, desto angestrengter wurde sein Blick, und die Aufmerksamkeit ergriff sein Gesicht, wie Wasser ein Löschblatt. Ohne den Blick vom Brett abzuwenden, verzog er mal das Gesicht und kratzte sich am Hinterkopf, mal griff er sich an die Nase, mal wölbte er die Unterlippe hervor und zog erstaunt die Augenbrauen hoch, mal biss er sich in die Lippe und blickte finster drein. Sein Gesicht wandelte sich in einem fort, schwamm in weite Fernen, bis es sich schließlich beruhigte, der Anstrengung ein Ende machte und ein schelmisch aufmunterndes Lächeln aufsetzte. Und obwohl ich vom Schachspiel absolut nichts verstand, wusste ich doch, als ich diesen Menschen ansah, dass er mit seinem Lächeln dem Gegner die gebührende Ehre erwies und dass das Spiel eine unerwartete Wendung genommen hatte – eine solche Wendung nämlich, die seinem Sieg nunmehr als unüberwindbares Hindernis im Wege stand.
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Die Boulevards waren wie Menschen: In ihrer Jugend ähnelten sie einander mehr oder weniger, später wurden sie eigen – je nachdem, was in ihnen gärte.
Es gab Boulevards, die hatten einen Teich – umzäunt von einem Netz aus sich kreuzenden roten Stäben, mit öligen Flecken an den Ufern, als hätte man Wasser in einen fettigen Topf gegossen, auf dessen grüner Oberfläche Wölkchen wie aus Lokomotivendampf vorbeizogen und Falten schlugen, wenn jemand mit einem Boot über den Teich fuhr – und nur ein paar Schritte weiter einen großen, sehr flachen Kasten ohne Deckel und Boden, gefüllt mit rotem Sand, in dem Kinder herumstocherten; auf den Bänken saßen Kindermädchen und strickten Strümpfe, Gouvernanten und Mütter lasen Bücher, und ein leichter Wind bewegte das Schattenmuster des Laubwerks über Gesichter, Knie und Sand wie eine schaukelnde Tapete.
Es gab Boulevards mit viel Lärm, wo eine Militärkapelle aufspielte und im blank geputzten Messing der Posaunen eine vorüberfahrende Straßenbahn als rote Eidechse in den Himmel entschwebte; wo es einem, wenn man zu den Klängen eines gemessenen Marsches dahinschritt, etwas peinlich war, wenn die Füße gegen den eigenen Willen in einen soldatischen Takt fielen, wie in ein schändliches Erdloch 18 ; wo es nie genügend Sitzbänke gab und in Musiknähe Klappstühle aufgestellt waren, mit grünen Metallbeinen und Sitzen aus grellgelben Lamellen, deren Ritzen sich als Stufenfalten in den Mantel prägten; und wo gegen Abend, wenn die Posaunen den «Faust» spielten, in der benachbarten Kirche die Glocken spitz und fein zu klingelingen begannen, als wollten sie davor warnen, dass gleich dieser samtene Kupferdonner losbricht, der den Posaunenwalzer immer unerträglich falsch klingen lässt.
Und es gab Boulevards, öde auf den ersten Blick, dabei waren sie es nicht. Da war der staubgraue Sand schon derart mit Schalen von Sonnenblumenkernen vermischt, dass man sie nicht mehr auskehren konnte; da stand ein Pissoir in Form einer leicht über der Erde schwebenden, nicht bis zum Ende aufgewickelten Rolle, dessen stechender Geruch einem von Ferne die Augen reizte; da zeigten sich am Abend zerlumpte, stark geschminkte alte Frauen, die mit heiseren, leblosen Grammophonstimmen für zwei Griwna 19 Liebe feilboten; da gingen am Tage Menschen vorüber, ohne dem zersprungenen Reifen Beachtung zu schenken und der hindurchspringenden Schönen im Trikot, durch deren pfirsichfarbenen Schenkel ein Nagel geschlagen war, der die artistische Verführung am Platze hielt; sie spazierten nicht, sie liefen zügig, als wäre dies eine gewöhnliche Straße – und setzte sich doch mal jemand auf eine der staubigen leeren Bänke, dann höchstens, um auszuruhen von der schweren Last oder um eine Schachtel Streichhölzer der Fa. Lapschin 20
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