Roman mit Kokain (German Edition)
Boulevards nebeneinander her, feindselig argwöhnend, während wir einander doch auf irgendeine Weise brauchten, und ich sprach Worte, deren Verliebtheit umso glaubhafter schien, je weniger sie der Wahrheit entsprachen. Und wenn ich endlich, geleitet von dem seltsamen Vertrauen darauf, dass ein vorsichtiges Drücken des Abzugs den Schuss weniger ohrenbetäubend macht, beiläufig, beinahe wie versehentlich, vorschlug, für ein Stündchen ins Hotel zu fahren, natürlich nur zu dem Zwecke, ein wenig zu plaudern, und einzig und allein deswegen, weil das Wetter heute (den Umständen entsprechend) zu kalt oder zu stickig wäre – da konnte ich schon anhand der Abfuhr (eine Abfuhr erfolgte fast immer) oder vielmehr anhand ihres Tones – ob erregt, empört, ruhig, verächtlich, angstvoll oder skeptisch – erkennen, ob es Sinn hatte, diese Frau am Arm zu nehmen und weiter zu drängen, oder ob ich kehrtmachen und ohne ein Wort des Abschieds fortgehen sollte.
Manchmal passierte es auch, dass mir, während ich gerade einer Frau nachlief, die mich soeben mit ihrem schrecklichen Blick gestreift und angelockt hatte, im selben Moment eine andere Frau in der Menge entgegenkam und mir einen ebensolchen unverhohlen lockenden und schaurigen Blick zuwarf. Unschlüssig und zu einer schnellen Entscheidung außerstande blieb ich dann stehen; bemerkte ich aber, dass die zweite sich umblickte, machte ich kehrt und folgte ihr, während ich mich weiter nach der ersten umsah, die sich in entgegengesetzter Richtung immer weiter entfernte, bis ich plötzlich bemerkte, dass auch sie sich umblickte, weshalb ich beide aufs Neue miteinander verglich und, noch bevor ich die zweite eingeholt hatte, wieder in entgegengesetzter Richtung der ersten hinterhereilte, die sich dann schon so weit entfernt hatte, dass ich sie oft nicht mehr fand; ich stieß die mir entgegenkommenden Menschen aus dem Weg, rannte suchend herum, und je mehr ich herumrannte, je länger ich suchte, desto aufrichtiger glaubte ich daran, dass sie, genau sie, die mich gelockt und sich umgeblickt hatte, um dann in dieser verfluchten Menschenmenge zu verschwinden – dass sie Traum und Ideal sei, auf ewig unerreichbar, unauffindbar, wie alle Träume.
Ein Abend, der mit einem Misserfolg begonnen hatte, verhieß eine ganze Reihe davon. Nach dreistündigem Herumlaufen auf den Boulevards, nach einer ganzen Reihe Misserfolge – und einer bedingte den nächsten, denn mit jeder neuen Abfuhr verlor ich immer mehr meine glühende, beharrliche Finesse und wurde grob, ließ derart an jeder neuen Frau die ganze Kränkung meiner Misserfolge bei ihren Vorgängerinnen aus – gab ich, müde und vom Laufen erschöpft, die Schuhe weiß vom Staub, die Kehle ausgetrocknet von den Kränkungen, längst ohne jede sinnlichen Bedürfnisse, ja mich sogar so geschlechtslos wie nie zuvor fühlend – gab ich mein Herumstreifen auf den Boulevards dennoch nicht auf. Es war, als hielte mich dort irgendein erbitterter, aus dem Ruder gelaufener Starrsinn, ein heftiger Schmerz des zu Unrecht Zurückgewiesenen, der mich daran hinderte, nach Hause zu gehen. Dieses bleierne Gefühl kannte ich schon aus der Kindheit. Einmal, als ich noch ein ganz kleiner Junge war, kam ein neuer Schüler in unsere Grundschulklasse, der mir sehr gefiel, bei dem ich aber, da ich schon damals schamvoll vermied, mir meine Empfindungen anmerken zu lassen, nie wusste, wie ich auf ihn zugehen und mit ihm Freundschaft schließen sollte. Eines Tages während des Frühstücks, als dieser Junge sein Essenspäckchen hervorholte und ein Brötchen auswickelte, ging ich – in der Absicht, unsere Freundschaft mit einem Scherz zu beginnen – zu ihm hin und machte eine Bewegung, als wollte ich ihm sein Frühstück aus der Hand reißen. Zu meiner Verwunderung wich der Neue aber erschrocken zurück, wurde rot vor Zorn und beschimpfte mich. Ich zwang mich weiterzulächeln und wurde darüber rot; und gleichsam in dem Versuch, die Würde dieses schon armseligen Lächelns zu wahren, machte ich erneut eine Bewegung, als wollte ich ihm sein Frühstück entreißen. Der Neue drehte sich zu mir und schlug mir ins Gesicht. Er war älter und stärker als ich und verdrosch mich; aber als ich später in einer entfernten Ecke saß und schniefte und weinte, da waren meine Tränen keineswegs darum so bitter, weil mir etwas wehtat, sondern weil man mich wegen eines Dreikopekenbrötchens geschlagen hatte, nach dem ich nicht gegriffen hatte, um es wegzunehmen, nein, unter
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