Roman mit Kokain (German Edition)
zu vertilgen oder dem Leben mit einem ätzenden Schluck aus einem Apothekenfläschchen durch den aufbrechenden Schmerz Einhalt zu gebieten, im nächsten Augenblick unter Krämpfen rücklings zu Boden zu stürzen und dann noch einmal, ein letztes Mal, diesen zähflüssigen Moskauer Himmel über sich zu sehen.
Es war schon Sommer, die Abschlussprüfungen waren lange vorbei, aber Begeisterungsausbrüche darüber, dass ich endlich Student war, fielen mir immer schwerer, und das untätige Leben, das ich jetzt führte, wurde mir zusehends noch lästiger als die Anstrengungen, für die es die Belohnung war. Und nur zwei- oder dreimal die Woche, wenn ich zufällig ein paar Rubel hatte – die in etwa ausreichten, um Kutscher und Hotelzimmer zu bezahlen – , ging ich aus.
Diese paar Rubel – es konnten im Monat bis zu vierzig sein – waren meiner Mutter eine überaus schwere Bürde. Schon unendlich viele Jahre trug sie ihr immer wieder geflicktes, immer wieder auseinanderfallendes, übel riechendes Kleid und Schuhe mit schief abgetretenen, wackligen Absätzen, von denen ihre angeschwollenen Füße vermutlich nur noch mehr schmerzten; dennoch gab sie mir das Geld, wenn sie welches hatte, von Herzen gern – während ich es mit der Miene eines Menschen annahm, der am Bankschalter irgendeinen läppischen Betrag abhebt und mit seinem herablassenden Desinteresse zu verstehen gibt, dass er genug Geld auf dem Konto hat. Wir verließen niemals zusammen das Haus. Und ich machte nicht einmal einen Hehl daraus, dass ich mich ihrer zerlumpten Kleidung schämte (verbarg aber, dass ich mich der Hässlichkeit ihres Alters schämte), das wusste sie, und als sie mir ein- oder zweimal auf der Straße begegnete, sah sie mit ihrem gütigen, verzeihenden Lächeln an mir vorbei zur Seite, damit ich nicht genötigt war, mich vor ihr zum Gruß zu verneigen oder zu ihr hinzugehen.
An Tagen, an denen ich gerade Geld hatte, aber immer erst abends, wenn hier und da schon einige Straßenlaternen brannten, die Geschäfte geschlossen waren und die Straßenbahnen menschenleer, ging ich aus. In einer engen Steghose aus Tweed, die schon lange aus der Mode war, aber zu gut anliegend, als dass ich auf sie hätte verzichten können, auf dem Kopf eine Schirmmütze mit hängendem Deckel so breit wie die Krempe eines Damenhutes, in einer Uniformjacke, deren Stehkragen aus Tuch mir ein Doppelkinn abpresste, gepudert wie ein Clown und die Augen mit Vaseline bestrichen – so lief ich die Boulevards entlang und hängte mich wie eine Klette an die Augen aller mir entgegenkommenden Frauen. Niemals zog ich auch nur eine von ihnen, wie man üblicherweise sagt, mit den Blicken aus, so wie die Sinnlichkeit auch niemals meinen Körper ergriff. In diesem fieberhaften Zustand, in dem andere vielleicht Gedichte schreiben, lief ich die Boulevards ab, angestrengt in die mir entgegenkommenden weiblichen Augen blickend, und wartete die ganze Zeit auf einen ebenso schrecklichen Blick aus weit aufgerissenen Augen als Antwort auf den meinen. Frauen, die mir mit einem Lächeln antworteten, ließ ich links liegen, wohl wissend, dass nur eine Prostituierte oder eine Jungfrau auf einen Blick wie den meinen mit einem Lächeln antworten konnte. In diesen abendlichen Stunden hätte keine imaginierte Entblößung es vermocht, mir so augenblicklich die Kehle austrocknen und die Stimme versagen zu lassen wie dieser weibliche schaurige und böse, alles bis auf den Grund freilegende, peitschende Henkerblick – ein Blick, der einem ans Geschlecht zu greifen schien. Kam es dann zu so einem Blick, und früher oder später geschah dies unweigerlich, machte ich auf der Stelle kehrt, eilte der Frau nach, die mich angesehen hatte, trat zu ihr und führte den weißen Handschuh an den schwarzen Mützenschirm.
Man hätte meinen können, dass mit dem Blick, mit dem diese Frau und ich uns in die Augen gesehen hatten, ganz als hätten wir eine Stunde zuvor gemeinsam ein Kind umgebracht – dass mit so einem Blick schon alles gesagt und geklärt und entschieden nichts mehr zu besprechen sei. Tatsächlich war aber alles viel schwieriger, und wenn ich zu dieser Frau trat und etwas sagte, das stets den Anschein erwecken sollte, wir würden ein soeben unterbrochenes Gespräch fortführen, da musste ich mehr und immer noch mehr sagen, um damit zwischen uns eine Innigkeit aufkeimen zu lassen, die sich mit der Sinnlichkeit unseres ersten Signalblicks vereinbaren ließ. So gingen wir in der Dunkelheit des
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