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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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dem Testbildbeben alle noch nicht gespielten, sämtliche noch ins dicke Fernsehglas gebannten Sendungen herauszuspüren sind.
    Die Zwillinge haben Sybilles kleine Schwester auf der Bank entdeckt und rennen den anderen voraus, um ihr zu melden, was sie im Rausch des frischen Erfolgs für eine gute Nachricht halten. Jedoch auf halbem Weg hin zu ihr, die zwischen den Fröhlich-Geschwistern die Beine baumeln lässt, fällt ihnen wieder ein, wie sie den Vogel von ihrem Zeigefinger aus dem Böhm’schen Küchenfenster starten sahen. Ohne ein Wort, ohne der Sittich-Eigentümerin ein «Wir haben ihn!» zuzurufen, machen sie kehrt und gucken sich lieber mit den anderen an, wie sich die Mutter und Frau Böhm über den goldenen Käfig beugen. Der Wolfskopf hat ihn am Henkel aus dem Kinderwagen gehoben, und jetzt genießt er als stolzer Käfighalter das Lob, das die Frauen den Kindern spenden.
    Sybilles Schwester aber zappelt so heftig mit den Beinen, dass die Fröhlich-Geschwister wegrücken, um ihre Waden vor dem Ausschlagen der Sandalen in Sicherheit zu bringen. Die Kleine kann nicht anders. Der ganze alte Ärger und das frische Schämen sind ihr in die Beine hinabgerutscht. Wut und Scham lassen sich nur durch dieses Kicken der Abendluft ertragen. Sie schämt sich für ihren Sittich, sie ärgert sichdarüber, dass er ein noch blöderes Arschloch ist, als sie bis heute Morgen von ihm dachte. Von den Körnern, die er im Futterschälchen glänzen sah, hat er sich zurück in seinen Käfig locken lassen. Wahrscheinlich ist nicht nur ihr türkiser Wellensittich, wahrscheinlich sind alle Vögel, die keinen gerade abstehenden, sondern bloß einen komisch gegen den Hals gedrückten Schnabel haben, elende Feiglinge. Womöglich taugen sogar die anderen Vögel nichts. Eventuell ist jeder Vogel gerade mal zum Aufgefressenwerden gut. Sie hat der Bär nicht fressen wollen. Der Bär hat sie kein bisschen angeknabbert. Der weiße Bär hat nicht einmal an ihr geleckt. Als er ganz hinten, wo der dunkle Weg an die Mauer rührt, auf seinen Hinterbeinen aus dem Gebüsch getreten war und sich sogleich mit beiden Vordertatzen an sein Bauchfell griff, dachte sie, babydumm, wie sie in diesem Augenblick noch war, er reibe sich den Magen, weil er sich darauf freue, ein leckeres kleines Mädchen zum Abendessen zu verspeisen. Es fiel ihr gar nichts anderes ein, weil man ihr immer die verkehrten Geschichten vorgelesen hatte. Die blöde Sybille und die arschblöden Nachbarsbrüder haben keinen Pups von Ahnung. Überhaupt weiß keiner von den Größeren, dass ein wirklicher Bär sein Fell aufmachen und zeigen kann, wie es unter dem weißen, gerade im Dunkeln schneeweiß schimmernden Pelz insgeheim aussieht. Dafür, fürs Zeigen, hat sie ihm ihre schönen roten Schuhe und die Söckchen geben müssen. Barfuß ist sie dann noch an der Mauer so, wie er es wohl wollte, in seinen schwarzen, klebrigen Bärendreck getreten. Sybille und die dumme Mutter haben, als sie ihr später in der Badewanne die Sohlen mit der groben Bürste schrubbten, weder gesehen noch gerochen, dass es Bärenscheiße war. Wenn wenigstens ihr Wellensittich ein bisschenmehr Verstand bewiesen hätte. «Bubi» und «Bussi» und «Hansi» hatte er doch in Nullkommanix krächzen gelernt, aber den Bärennamen wollte das türkise Arschloch einfach nicht über seine hässlich dicke Zunge bringen. Dass er den Namen, dass er die beiden Wörtchen so schön aussprechen würde, wie sie ihm vorgeflüstert worden waren, hatte sie gar nicht erwartet, das übliche Geschnarre, das ungefähre, das halb- oder viertelfalsche Nachgemache hätte ihr gelangt.
    Der Ältere Bruder, der es mit seinen Krücken als Letzter zu den anderen vor den Hausaufgang geschafft hat, sieht Sybilles kleine Schwester von der Bank rutschen und langsam näher kommen. Wie komisch sie läuft! Mit diesen steifen, kaum gebeugten Knien sieht ihr Gehen wie ein Marschieren aus. Frau Böhm bedankt sich auch bei ihm, lobt ihn für seine Zähigkeit und fragt, wo sie den Ausreißer denn schließlich eingefangen hätten. Der Ami-Michi deutet auf den Schniefer und meint, ohne dessen Kletterkünste würden sie wahrscheinlich noch unten am Spielplatz vor der Nagelbuche stehen. Auf deren unterster Gabelung, dort, wo der dickste Ast abgehe, sei der Sittich mit letzter Kraft gelandet. Dann holt Sybille Luft, um den Müttern umständlich die Bauchnabelsaugmethode zu beschreiben, mit der der Schniefer nun bereits zum zweiten Mal den glatten Buchenstamm

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