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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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bezwungen habe. Alle nicken, denn alle haben erneut vor Augen, wie er auf dem mächtigen Ast saß, wie er, den rechten Zeigefinger an den Lippen, mit der linken Hand winkte, also um Stille heischte und zugleich nach dem Käfig verlangte. Und plötzlich stand, keiner hatte sein Herankommen bemerkt, der Weißling unter ihnen. Ohne ein Wort zu sagen, nur dadurch, wie er vor ihm auf ein Knie sank, machte er dem Wolfskopf klar, dass der die Beine über seine Schultern schwingen solle. Sybille reichtedem Freund, als dessen bloße Schenkel um den Nacken des Huhlenhäuslers klemmten, den Käfig. Und weil der Schniefer sich oben bäuchlings in die Gabelung legte, konnte er zwei Finger in den Dachhenkel der hochgestemmten Vogelbehausung haken.
    Sybille guckt den Schniefer an und wartet, ob er den Faden der Erzählung weiterspinnen will. Schließlich hat er vollbracht, was die anderen von unten nicht richtig sehen konnten, weil es in der Mulde zwischen dem Stamm der Nagelbuche und deren dickstem Ast vonstattenging. Der Schniefer ringt mit dem ersten Wort, er überlegt noch, wie er das Geschehene beschreiben soll, ohne den Trichter, die Tiefe des Trichters, ohne das Hinabgaffen des Sittichs, ohne die beschwörende, den Sittich zwingende Geste des dünnen Mädchens zu erwähnen. Da schreit einer der Zwillinge auf vor Schmerz. Alle erschreckt es arg, allen fährt es eine Handbreit tiefer in die Brust, als es bei Tageslicht geschehen könnte. Aber nur der Mutter und unserem großen Bruder geht es vollends durch Mark und Bein. Nie zuvor haben sie einen der beiden alleine wehklagen hören müssen. Die Mutter hat die Urgeschichte schon hundertmal erzählt. Und um das eben Geschehene magisch auszugleichen, wird sie in Zukunft noch tausendmal erzählen, wie der Zunächstgeborene mit seinem ersten Säuglingsgreinen wartete, bis auch sein Brüderchen in den Händen der Hebamme lag. Erst als sie beide ganz in die Welt geraten waren, ließen sie ihre Stimmen wie früherfahrene Sänger im Duett erklingen. So ging es mehr als sieben Jahre. Selbst wenn sich einer wirklich bös das Knie aufschlug, presste er die Zähne aufeinander, so lange, bis der andere zur Stelle war, um gemeinsam mit ihm loszujammern.
    Jetzt jedoch hat es Sybilles kleine Schwester geschafft, diebeiden durch einen speziellen Schmerz zu trennen. Zur Strafe, weil die Zwillinge die Verfolgung ihres Sittichs angestoßen hatten, wurde einem tückisch wehgetan. Das Schmerzensbild, das Schmerzensmal macht den fatalen Unterschied. Noch tagelang wird man es sehen können. Die Zwillinge werden sogar zusammen mit der Mutter und unserem großen Bruder ins Josephinium fahren, damit Professor Felsenbrecher einen fachmännischen Blick auf die Verletzung wirft. Kopfschüttelnd und anerkennend pfeifend, wird der Herr Professor zunächst das eingeprägte Muster bestaunen, dann das Alter der Täterin erfragen. Ein Milchgebiss! Die Tiefe sei erstaunlich. Ein Wunder, dass nicht mehr Blut geflossen sei. Wahrscheinlich würden die oberen Eckzähne zwei weiße Narbenpunkte auf dem Handgelenk hinterlassen. Das phänomenal genaue, nahezu uhrblattrunde Gesamtbild, das komplette Negativ des Kleinmädchengebisses, müsse allerdings – sei es nicht fast ein wenig schade? – schon in den nächsten ein, zwei Wochen wie Tintenblau im Sonnenlicht zu nichts vergehen.

Sonnentag
    Das Sofa hat es geschafft. Ihr Sofa hat es wieder hingekriegt. Die Kinder bewundern das grüne Ding hierfür. Der Ami-Michi streicht mit beiden Händen zuerst über das hübsch geschwungene Holz der Seitenlehne, tätschelt dann andächtig lang das stramme Rückenpolster. Sybille staunt, wie frei von Staub und Flecken, wie unheimlich sauber sich ihr Sommermöbel auf seiner Wanderung hat erhalten können, bis hierher, wo es nun – wer zweifelt noch daran? – an seinem endgültigen Standplatz angekommen ist. Unsere Schicke Sybille beugt sich hinunter, schnüffelt, weil sie ihren Augen allein nicht traut, vorsichtig am sonnenwarmen Cord. Statt schimmeligem Rosshaar, feuchtem Sperrholz oder süßlich strenger Katzenpisse riecht sie überhaupt nichts. «Es riecht nach nichts! Es riecht nach gar nichts!» Sybille muss dies, als würde es viel mehr als nur das Fehlen übler Gerüche bedeuten, dem Älteren Bruder, der als Letzter den Hang heraufkommt, lauthals entgegenrufen.
    Dem Wolfskopf fällt noch etwas anderes auf. Weil er schon fast so etwas wie ein Bastler ist, weil er im Winter mit seinem Vater einen ganzen Stapel alte Bretter

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