Roman unserer Kindheit
Asphalt des Drosselgrunds herauf gefragt, ob denn da oben so etwas wie ein Loch sei. Jetzt fällt ihm wieder ein, dass er auch in der Nagelbuche gründlich und zunächst vergeblich nach seinem Taschentuch gesucht hat. Als er es endlich ganz unten in einem nie zuvor erreichten Winkel seiner linken Lederhosentasche zu fassen kriegte und sich damit über die Nase rieb, bemerkte er, dass diese bereits sauber war. Ohne das Stecknadelrund, ohne die winzige Mündung des Kino-Trichters aus dem Auge zu verlieren,tastet der Schniefer seine Nasenlöcher ab. Alles tadellos glatt und rein. Kein frischer Rotz und nicht die kleinste Kruste. Was für ein Glück! Wie gestern braucht er sich also vor dem ganz dünnen, vor dem schneeweißen Mädchen, das dort unten vom weiten Grund des Trichterrunds zu ihm heraufwinkt, für nichts, für gar nichts zu genieren.
Jeder schämt sich, so gut er kann. Ich kriege es kein bisschen hin und muss mich daher ans Schämen der anderen halten. Annabett Böhm war schnell und heftig peinlich, dass sie ihre Tochter im Hof und dann auch noch vor ihrer Nachbarin und deren Sohn geschüttelt und angeschrien hatte. Natürlich sind ihre übermäßig malträtierten Nerven schuld daran gewesen. Leider würden die in den kommenden vierzehn Tagen nicht wesentlich besser werden. Genauso lang sollte ihr Mann auf Geheiß von Professor Felsenbrecher im Josephinium bleiben und unter Aufsicht eines besonders geschulten Pflegers nach einer neuen Methode aus Amerika das Knie wieder bewegen lernen. Mindestens zweimal die Woche wollte sie ihn besuchen, und stets sollte eine ihrer Töchter sie begleiten. Nur so glaubte sich Annabett Böhm davor gefeit, die Fahrt ins Zentrum zu verlängern, um dort durch irgendein ungeputztes Werkstattfenster einen langen, wütend sehnsüchtigen Blick auf den zu werfen, den sie nie mehr in ihrem Leben wiedersehen mochte.
Inzwischen hatte sie in ihrem Fühlen schnell so weit aufgeräumt, dass ihr die Kleine, das unberechenbare Früchtchen, vorrangig leidtat. Gewiss reute es diese längst, das Wegfliegen ihres Geburtstagssittichs verschuldet zu haben. Beim morgigen Besuch im Josephinium wollte sie dem knieversehrten Gatten die halbe Wahrheit berichten und ihm vorschlagen,der Sünderin nach einer kleinen Wartezeit, in der das offene Türchen und das weißblinkende Spiegelrund des leeren Käfigs vom Küchenschrank heruntermahnen dürfen, einen zweiten Wellensittich zu schenken. Aber es kam anders, als es sich die patente, schamerfahrene Annabett unter ihrem schönen schwarzen Schopf zurechtgelegt hatte. Sybille blieb bis in den Abend mit den Nachbarsbuben verschwunden. Nur einmal, irgendwann am späten Nachmittag, rannten die Zwillinge Seite an Seite in den Hof, um den Müttern mitzuteilen, der Sittich sei gerade vorn am gelben Block, auf einem Fensterbrett im zweiten Stock gelandet, die Atempause könne aber wie alle vorigen jeden Augenblick wieder aufgehoben werden. Und schon waren die beiden mit einer Flasche Limo, die ihnen ihre Mutter schnell durchs Fenster hinausgereicht hatte, wieder auf dem Weg zu den anderen Jägern. Erst als es dunkelte, kam der Tross zurück.
Sybilles kleine Schwester war noch draußen. Sie saß mit den Fröhlich-Geschwistern auf der Bank vor der Robinie und hörte die ganze Zeit an dem vorbei, was ihr die beiden in umständlichen Windungen und wirren Brocken aus einem Film erzählten, den sie abends, wenn eigentlich nur die Erwachsenen gucken sollen, im Fernseher gesehen hatten. Die Fröhlichs besitzen, so weit, wie die Kinder des Hofes mit vereinten Kräften in das Vergangene denken können, also schon immer, einen Fernsehapparat, und das Fröhlich-Mädchen und der Fröhlich-Junge behaupten, dass sie alles anschauen dürften. Sogar das Testbild! Wenn dessen Muster auf dem Bildschirm steht und ähnlich wie im Radio eine Musik dazu gespielt wird, dürfen die beiden ihre Spielsachen auf den Fernsehteppich legen und sich vom Fernsehlicht bescheinen lassen. Sybilles kleine Schwester hat dieses besondereBild selbst gesehen und seine Wirkung mitgenossen. Zuerst dachte sie, unkundig, wie sie damals war, das Testbild rühre sich überhaupt nicht. Aber nach einem Weilchen begriff sie, dass es fein und geheimnisvoll am Zittern war. Und während sie der größten Puppe des Fröhlich-Mädchens den Kopf im Kreis herumdrehte, damit die Puppenaugen alles, was ihnen die anwesende Welt zu bieten hatte, als ein unendliches Panorama überschauen konnten, wurde ihr klar, dass aus
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