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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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dem riesengroßen, hohlen Vorführsaal, sei ganz gewiss – das könnten sie ihr glauben! – nicht das kleinste Körnchen zu finden. Der Wellensittich sei wie ihre kleine Schwester verrückt geworden und habe die armen Spatzen in Nullkommanix mit seinem Irrsinn angesteckt. Die Zwillinge widersprechen dem nicht, sondern denken sich im Stillen noch ihren Teil dazu. Die beiden waren gerade vom Bäcker in den Drosselgrund zurückgekommen, hatten, wie die Mutter es ihnen vor ihrer Fahrt ins Krankenhaus noch aufgetragen hatte, ein großes Mischbrot und eine Tüte Semmelbrösel eingekauft, als sie sehen mussten, wie Sybilles Schwester ans Böhm’sche Küchenfenster trat. Sie trug den Wellensittich auf dem Zeigefinger, redete leis mit ihm, hatte ihm anscheinend Wichtiges zu sagen. Und weil sie bemerkten, dass sich das Bewegungsbild ihrer Lippen wiederholte, verstanden die Zwillinge, sie war dabei, dem Vogel etwas durch Vorsprechen beizubringen. Dann jedoch hielt sie ihn auf einmal weit ins Freie und schrie – auch ihre Mutter, die gleich darauf ans Fenster gesprungen kam, hatte es sicherlich gehört – mit ihrer schrillsten Kleinmädchenstimme: «Dann hau doch ab! Jetzt hau doch endlich ab, wenn du dir das nicht merken kannst, du dummes Arschloch!»
    Da kommt der Ältere Bruder angekeucht. Der Wolfskopf, der den leeren Vogelkäfig im Zwillingskinderwagen vor sichherschiebt, ist an der Seite seines krückenschwingenden Freunds geblieben. Unser großer Bruder hechelt und lacht, so gut er es noch hinkriegt. Die anderen sehen wohl, wie ihm die übergroße Anstrengung das Gesicht merkwürdig älter macht, aber allein die Mutter könnte erkennen, dass er mit dieser Erschöpfungsmiene zum ersten Mal in seinem Leben dem Vater ähnlich sieht. Er witzelt mit letzter Kraft, wenn er geahnt hätte, dass die Jagd den Elsternhorst erst ganz hinauf- und dann gleich wieder halb hinuntergehen würde, wäre er vorhin, als sie vom Spielplatz hochgekommen seien, hier am Kino stehen geblieben, um sich in Ruhe die ausgehängten Fotos anzuschauen.
    Der Schniefer nimmt den Scherz als Einziger für bare Münze. Während die anderen zwei Schritte rückwärtstreten, um den Wellensittich, der verdächtig weit nach hinten gehüpft ist, im Auge zu behalten, rennt er über die Fahrbahn und springt die Stufen zum Portal des Kinos hoch, um sich die genannten Bilder anzusehen. Dabei müsste er genauso gut wie die anderen wissen, dass die Lichtburg Sommerpause macht. Erst als er vor der mittleren der großen Scheiben steht, hinter denen sonst die Hochglanzfotos hängen, fällt es ihm wieder ein, und dennoch zwingt ihn ein komisches Gefühl über der Nasenwurzel, ein Bohren in der Mitte seiner Stirn, diese ans Glas zu drücken und den roten Samt, der bislang als bloßer Hintergrund der Bilder so gut wie unsichtbar gewesen ist, unsinnig gründlich zu begaffen. Er tastet nach seinem Taschentuch. Jetzt sieht er auch die Nadeln, die sonst die Fotos halten. Sie liegen unten auf dem schmalen Rand zwischen Scheibe und Samt, zusammen mit einer großen toten Wespe, und haben kugelrunde weiße Plastikköpfe. Weil er zum ersten Mal ganz genau hinguckt, kann er nachund nach alle Löchlein erkennen, die die Nadeln in den zurückliegenden Jahren, Film auf Film, in den Stoff gestochen haben. Er gräbt in seinen Hosentaschen. Er würde sich jetzt gern die Nase putzen, aber merkwürdigerweise kann er sein Taschentuch nicht finden. Jetzt sieht er: Ein Nadelloch ist größer als die anderen. Der Schniefer presst die Stirn ans kühle Glas, er schiebt das rechte Auge genau über das Loch und kneift das linke zu, um in diese besondere Öffnung – es ist das Ende eines Trichters! – hineinzugucken.
    Die andern schreien. Der Sittich hat mitten im Schwarm der Spatzen abgehoben. Schon hört der Schniefer die Sandalen seiner Freunde Richtung Spielplatz trommeln. Allein gelassen kann er sich sogleich viel besser sammeln und nun ganz sicher sagen: Das ist wieder derselbe Trichter! Hier im Schaufenster der Lichtburg ist er nur verkehrt herum eingebaut, wird also nach hinten immer weiter. Es ist, als könnte man durch das Mundstück in die Trompete eines Riesen lugen. In der Mulde der Nagelbuche hatte er das andere Ende des Trichters abgetastet. Gern hätte er, rittlings auf dem dicken Ast, den nackten Arm, noch lieber beide Arme ganz tief in das weite Rund hineingesteckt. Aber dann wären die Freunde aufmerksam geworden. Todsicher hätte Sybille von unten, vom blöden, dreckigen

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