Roman unserer Kindheit
hüpft noch immer. Sie hüpft mit komisch steifen Beinen, aber so kraftvoll und ausdauernd auf der Couch herum, wie Sybille es noch nie an ihr gesehen hat. Der Wolfskopf, dem die Unterlippe blutet, schaut Sybille fragend an, sie nickt, weil sie es mehr als nur in Ordnung findet, dass er sich das Miststück schnappt und tüchtig für die anschwellende Lippe, für die Schmerzen in den Wurzeln seiner Vorderzähne und für ihr gemeinsames Erschrecken büßen lässt. Doch als er nach der Hopsenden grabscht, springt die mit einem tollen Satz – das Sofapolster federt wie ein Trampolin! – über die Seitenlehne, landet sicher wie eine erfahrene Turnerin und spurtet, Schulter und Ellenbogen streifen an den Ziegeln, Richtung Bärenkellerstraße. Bevor die Mauer abknickt, bevor die Fliehende unserem Blick entschwindet, dreht sie, ohne innezuhalten, noch einmal das Näschen über die Schulter und schreit: «Guckt doch dahinter, wenn ihr keinen Schiss habt!»
Der Zuruf schlägt allen gleichermaßen ins Gesicht. Jeder versteht sofort, was damit gemeint ist. Unserem großen Bruder aber, der sich wieder auf die Felsenbrecher’schen Krücken stützt, drückt sich die Last der Führung mit besondererÜberschwere ins Genick. Er weiß, die anderen erwarten jetzt von ihm, dass er entscheidet. Zwei Möglichkeiten liegen auf der Hand des Augenblicks: Sie könnten nun einfach weiterhin so tun, als wäre nichts. Sie könnten auf dem grünen Cord der Couch zusammenrücken und deren vordere Hartholzbeinchen durch ihr gemeinsames Gewicht noch fester gegen den Boden pressen. Oder sie könnten, um nicht als eine Bande von Feiglingen dazustehen, der Bosheit des kleinen Mädchens zu Willen sein und hinter die Lehne lugen.
«Erzähl uns die Geschichte aus dem Nudelbuch!», bettelt der Ami-Michi, dem sich die Furcht wie eine Maske aus Zellophan über das Gesicht gezogen hat. Unser großer Bruder sieht das hastige Nicken, mit dem die Zwillinge diese Bitte unterstützen, und auch der Wolfskopf und der Schniefer stimmen dem Wunsch des Freundes mit einem komisch inständigen Händeringen zu. Bloß Sybille schüttelt den Kopf, so ruckend störrisch, wie sie allein es hinkriegt, und schon hört er sich selber sagen: «Schiebt das Sofa ein Stückchen weg, damit wir die Lehne kippen können! Ich muss mir meine alten Krücken aus der Klappe holen.»
Dem Fehlharmoniker droht unversehens Ärger. Heute Morgen, pünktlich zum Schichtbeginn, hat einer im Revier in Oberhausen angerufen und, ohne seinen Namen preiszugeben, angezeigt, ein Straßenmusikant, der nicht einmal sein Instrument beherrsche, bettle nun schon seit Tagen zwischen Tabak-Geistmann und Lebensmittel-Vetterle die einkaufenden Hausfrauen an. Der Polizist der Neuen Siedlung, ein älterer, rundum angenehm dicker und allgemein beliebter Mann, der pünktlich vormittags um neun die Nebendienststelle im Elsternhorst öffnet und nachmittags um vierwieder verschließt, ist vom Revierleiter angewiesen worden, der Beschwerde nachzugehen. Zumindest sei zu prüfen, ob der Quetschkommodenspieler einen Gewerbeschein besitze.
Der brave Gesetzeshüter steht bereits auf der anderen Straßenseite und wundert sich über die Häuserlücke, die ihm bei früheren Gängen nie aufgefallen ist. Mit wachsendem Unbehagen hört er sich an, was dieser Mann seinem Instrument an seltsamen Tonfolgen abverlangt. Kein Wunder, dass sich irgendwer von diesem Quarren und Quaken belästigt fühlt. Andererseits geht er, ins letzte Dienstjahrzehnt getreten und längst gemütlich, krampfadrig und nachsichtig geworden, nur äußerst ungern gegen einen blinden Kriegsversehrten vor. Jetzt ist Herr Doktor Junghanns vor dem Akkordeonquäler stehen geblieben. Er neigt den Kopf zur Seite, verschränkt die Finger auf dem mageren Greisenhintern; es scheint, als höre sich der Arzt das Gequietsche mit Interesse, ja sogar mit Wohlgefallen an. Ist es womöglich doch Musik? Es könnte eine Musik sein, die nur studierte Leute als Musik erkennen. Der Wachtmeister beschließt, sich erst einmal, als käme er rein zufällig des Wegs, dazuzustellen. Er geht noch ein Stück in die Gegenrichtung, überquert auf Höhe der Drogerie die Straße und will gerade schön unauffällig, am Waschsalon und an der Sparkasse vorbei, zu Musiker und Hund hinschlendern, da rennt ihm, aus der Tür des Milchgeschäfts, ausgerechnet der Huhlenhäusler vor den Bauch, der gestern in Sachen Körperverletzung nicht zur Vernehmung auf dem Revier erschienen ist. Er nimmt
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