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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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dass ihm, als ich mein Bild abzog, das Herz versagte? Wer sich an Bilder klammert, hat immer selber Schuld. Und wer an einem einzigen Bildlein hängenbleibt, wer vom Bilde seines weißen Nichtchens abhängt wie von einem Tropf, ist schon so gut wie tot.
    Ernstlich besorgt will sich der Fehlharmoniker noch einmal über Wischmann-Waschmann beugen, als der mit einem seltsam kindlichen Greinen endlich wieder zu sich kommt. Der Mann ohne Gesicht zieht den Musiker zur Treppe. Erflüstert ihm zu, er wolle bloß noch kurz in seine Küche, um Geldbörse und Brieftasche herauszuholen. Die Wohnung hier im rosa Block sei ab sofort zu nichts mehr nütze, der blöde Postler rufe bestimmt die Polizei. Den Rest der Arbeit müssten sie wohl ambulant wie die Zigeuner über die Runden bringen. Es sei denn, der Kommandant mache nun seine Bude – wenn sie nur wüssten, wo er stecke! – zur Basis aller weiteren Operationen. Aber wie er dann unten die Schublade des Küchenschranks aufzieht, hört er hinter seinem Rücken Sputnik knurren. Und schneller als ihr Herrchen entdeckt er, was der Hündin missfällt. Mit gesträubten Nackenhaaren weicht sie vom Tisch zurück, ohne dabei dessen Fläche, ohne die Pappquader, die auf dem rohen Holz der Platte kleben, aus dem Blick zu lassen.
    Die Männer können nicht riechen, was Sputnik riecht, aber schließlich sieht sogar der Fehlharmoniker, was sich am Plan verändert hat. Schulter an Schulter beugen sich die Kameraden über die fragliche Stelle, über das sackförmige Ende des Drosselgrunds. Während der kanariengelbe, der erbsengrüne, der rosafarbene und selbst der miestürkise Karton unverändert steif die Stellung halten, ist dem fünften, dem letzten Quaderchen ein Malheur passiert. Auf allen vier Seiten wellt sich die untere Kante. Das Modell des letzten Blocks ist komisch erweicht, irgendwie nass geworden, sogar schon ein, zwei Millimeter eingesunken. Der Mann ohne Gesicht weiß sicher, dass er nichts auf dem Tisch vergossen hat. Der Fehlharmoniker tupft dennoch mit der Zeigefingerspitze einmal um die vier Wändchen aus weißer Pappe. Ja, dort ist alles trocken. Aber dann sehen beide eine der senkrechten Kanten mittig auseinandergehen. In der ovalen Öffnung glänzt es glasig. Sputnik bellt kurz und scharf. Die beidenMänner, Richtschütze wie Ladeschütze, begrüßen den gar nicht wasserblassen, den erstaunlich dunklen, monochrom roten Tropfen, den das Modell entlässt, mit einem synchronen Entlastungsschnaufen. Und schließlich sagt der Mann ohne Gesicht zu Kamerad und Hund und in die Stille der Küche, die er gleich für immer verlassen wird: «Ach, gottverdammt! Ich spür’s von meinem Nasenknubbel bis ins Hirn, ich spür’s eiskalt vom Kopf bis an den Arsch hinunter: Unseren Kommandanten hat’s erwischt.»
    Die Kinder spüren, dass sie weitermüssen. Aber der Tote ohne Füße, der Kriegsgeschichtenleser, hält sie weiterhin am Tisch. Auf eine peinigend verdruckste Weise ist allen halb klar, woran es liegt, aber dann braucht es doch den Ami-Michi und sein besonderes Talent für jede Art von Angst und Unbehagen, dass das Hemmende, dasjenige, was noch erledigt werden muss, zur Sprache kommt: «Vielleicht hat er etwas, was wir gebrauchen können?» Sybille fängt mit dem Filzen an und lässt die Finger in die linke Jackentasche gleiten. Der Wolfskopf tritt hinter den Stuhl, legt dem Toten die Unterarme auf die Schultern, verschränkt die Hände unter den Kragenspitzen seines Hemds und zieht ihn am Hals zurück bis an die Lehne, auch wenn es dabei komisch im Genick der Leiche knackt. Jetzt können er und Sybille bequem in die Innentaschen der offenen Jacke greifen. Die Zwillinge sind rechts und links auf die Knie gesunken, um die Hosensäcke auszuräumen. Beide ziehen als Erstes je ein zusammengeknäultes, feuchtes Taschentuch hervor. Während der eine nichts weiter findet und sich deshalb der Gesäßtasche zuwendet, muss der andere dem rechten Hosensack bis auf die Innenseite des Oberschenkels folgen. Denn seine Fingerspitzen haben etwas Hartes angetupft. Schließlich schiebt ermehr als die Hand, schiebt auch noch das Handgelenk und die Stelle, in die er gestern gebissen wurde und die gerade jetzt elendig juckt, über die raue Kante des Hosenstoffs und über das glatte Futter in die Tiefe der Tasche.
    Der Ältere Bruder hat das Romanheft vom Tisch gehoben. Wenn sich darunter ein Zettel mit einem aufgemalten Plan oder mit einigen recht geheimnisvollen Sätzen gefunden hätte, wäre

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