Roman unserer Kindheit
stürzt dann über den Rücken der sich zur Seite wegduckenden Sputnik und ist – ehe der Fehlharmoniker ihn wieder in seinem Sehstreif hat – schon mit der Schläfe gegen das Treppengeländer geknallt, heftig genug, um nichts als einen weißen Schmerzblitz und dann noch weniger als jeder Sehbehinderter von dieser schönen Welt wahrzunehmen.
Alle hören es klingeln. Die Zwillinge, die als Erste um die Biegung kamen und als Erste ins Auge fassten, was es dort anzuschauen gibt, sind schlimm erschrocken, als genau mit ihrem Hingucken das Klingeln losgebrochen ist. Jetztläutet es bereits zum fünften Mal, alle starren zum Tisch, aber keiner kann das Telefon entdecken. Der Mann am Tisch darf das Gebimmel ignorieren. Kein Glocken- oder Glöckchenschlag wird ihn erwecken. Darüber brauchen sich die Freunde nicht weiter zu verständigen. Allein, wie sein linkes Auge, das nach oben gewandte, glasig offen steht, sagt ihnen schon genug. Jeder von ihnen hat mehr als einer der Amseln, die in hässlicher Regelmäßigkeit gegen das Glas der Haustüren knallen, ins tote Auge geschaut. Das Blut, das aus den Nasenlöchern des Mannes geflossen und auf dem Holz des Tisches angetrocknet ist, hätte es also gar nicht mehr gebraucht. Der Schniefer hat sein Taschentuch gezogen und halb entfaltet, jetzt dreht er es in den Händen, als hätte es sich mit etwas vollgesogen, was nun ausgewrungen werden muss. Sybille sinkt in die Hocke. Sie schaut unter den Tisch, um dasjenige zu begreifen, was alle weit mehr als die starre Pupille und das angepappte Rot erschreckt hat und weiter ins Erschrecken bannt. Sybilles Hang zur Genauigkeit klärt es auf. Alles ist halb so schlimm. Die Hosenbeine des Toten sind akkurat aufgeschlagen und mit silbernen Klammern festgesteckt, gerade so hoch, dass zwischen Stoffkanten und rauem Beton noch handlang Luft bleibt. Die Füße und die Schenkel sind gar nicht, wie sie zunächst denken mussten, frisch abgeschnitten. Und Sybille scheut sich nicht, den anderen mit wenigen Worten begreiflich zu machen, was der Mann, als er noch lebte, so schrecklich superordentlich, Schuh an Schuh, Knöchel an Knöchel, rechts neben seinen Stuhl gestellt hat.
«Nimm das mal runter!», weist sie den Wolfskopf an. Der greift mit spitzen Fingern nach dem Groschenheft, das die Drittelbeine deckelt, und als er es mit einem scharfen Ruckwegzieht, bezeugen die gepolsterten Mulden, dass nur etwas Gemachtes in der Baumwolle der Strümpfe steckt, dass sich die Gummibänder der Sockenhalter also nicht, wie lang genug befürchtet, um das Fleisch durchtrennter Muskeln spannen.
Der Ältere Bruder nimmt dem Wolfskopf das Romanheft aus der Hand und klappt es zu, um sich Umschlagbild und Titel anzusehen. Dann beugt er sich über den Tisch und beginnt in einem weiteren, dort aufgeschlagenen Heft zu lesen. Gewiss sind dies die letzten Sätze, die der Fremde aus der Welt gesogen hat. Die anderen sehen andächtig zu, wie schnell der Ältere Bruder die Zeilen mit ruckenden Augäpfeln verschlingt und schließlich eine verdrossene Schnute zieht, weil der aufs Heft gesunkene Kopf die zweite Seite fast vollständig verdeckt. Die Krücken scheinen ihn kaum mehr zu behindern, als er sich dann über den ersten der beiden Stapel, die rechts und links von Stuhl und Tisch wie Säulenstümpfe aus Papier aufragen, hermacht. Hastig blättert er sich von oben nach unten in die Romane. Die Zwillinge versuchen es ihrem großen Bruder gleichzutun und schnappen sich jeweils das oberste Heft, um zumindest die Umschlagbilder zu studieren. Der Ungebissene sieht magere, bärtige Männer, die über schmutzig festgestampften Schnee marschieren. Alle haben die Hände im Nacken liegen, die Ohren und die halben Wangen sind von Lumpen verdeckt, deren Ränder unter Stahlhelmen und hochgeschlagenen Uniformkrägen verschwinden. Sein Bruder hingegen bewundert einen mit einem Kreuz geschmückten Riesenpanzer, sieht grauen Schlamm unter den Raupengliedern spritzen, und während die Stirn des Turms und damit die Kanone ganz langsam in seine Richtung schwenken, buchstabieren seineLippen auch für die Ohren der anderen: «Die letzten Königstiger greifen an!»
Der Ami-Michi findet das Telefon. Es steht gleich hinter den Absätzen der Prothesen. Einige Heftchen, die der Mann nicht ordentlich von links nach rechts gestapelt hat, sondern aufgeschlagen, vielleicht angelesen, über die Tischkante auf den Boden flattern ließ, haben den Apparat wie das herabfallende Laub eines Romanbaums
Weitere Kostenlose Bücher