Roman unserer Kindheit
obwohl zwei hüfthohe Säulen Bieruntersetzer, über hundert verschiedene Flaschenkronen und womöglich noch mehr Witze ihr gemeinsames Besitztum sind, haben sie niemals die Schlafplätze getauscht. Die Mutter knöpft das Kissen auf und findet, was sie nicht finden soll.
Die Zwillinge haben die Schlinge, die sie gleich fangen wird, selber geknotet und zurechtgezogen. Der obere konnteam Vorabend nicht einschlafen, weil ihm die Stelle, in die Sybilles kleine Schwester ihre Milchzähne geschlagen hatte, unentwegt wehtat. «Es brennt wie Feuer!», flüsterte er über den Matratzenrand, als ihn sein Bruder von unten fragte, warum er sich denn in einem fort herumwälze und ihn damit am Schlafen hindere. Schließlich beschlossen die beiden, sich noch einmal das bunte Magazin anzugucken, das sie dem Ami-Michi abgehandelt hatten. Dazu mussten sie es allerdings erst an die Betten holen. Es war in ihrem allerbesten Versteck, an einem hochgeheimen Ort, den nicht einmal Frau Böhm, die bisher sämtliche Verstecke ihrer Töchter aufgespürt hat, erraten hätte. Am Bett des Älteren Bruders bestehen das flache Kopf- und Fußteil aus lackierten Eisenrohren, auf deren Enden hölzerne Stöpsel stecken. Einer davon geht ab, wenn man mit beiden Händen kräftig zieht. Eng aufgerollt, hatte das Heft mit den besonderen Fotos prima hineingepasst. Gestern, als es der Gebissene aus der Röhre zog und dabei ein verräterisches Schaben nicht verhindern konnte, blieb der Schlaf des Älteren Bruders unverändert fest. Sicherheitshalber krochen die beiden mit ihren Taschenlampen unter die Decke des oberen Bettes, um sich das Heft, ohne ein Wort, aber mit ernstem, mit immer tiefer werdendem Schnaufen, durchzusehen. Unter dem rundum sorgfältig herabgezogenen Zeltdach wurde das Atmen nach und nach beschwerlich, und als das letzte Bild, das Bild der Rückseite, zu Ende betrachtet war, hatte der Mangel an Sauerstoff die Zwillinge so grundsätzlich erschöpft, dass keiner mehr die Kraft aufbrachte, das geheime Heft ins sichere Versteck zurückzubringen.
Bild für Bild studiert nun auch die Mutter das im Kopfkissen Gefundene. Anders als ihre Kleinen liest sie dazu denText und rätselt, warum er gleich dreimal, in drei Sprachen, dasteht: zuletzt in einem kuriosen, fehlerhaften Deutsch, darüber auf Englisch, das sie halbwegs versteht, weil sie als junge Frau Kindermädchen bei einer amerikanischen Offiziersfamilie war, und zuoberst in der ersten Zeile, direkt unter dem gemeinten Foto, stehen die Sätze vermutlich in der Sprache des Landes, in der das Heft in Druck ging. Die Mutter weiß wohl, dass es solche Magazine mit solchen Bildern gibt. Sie hat davon gehört, dass sich Ehe- und andere Paare bei dem, was sonst im mehr oder minder dunklen Schlafzimmer geschieht, für Geld oder vielleicht sogar aus einem anderen dunklen Grund mit grellem Blitzlicht abfotografieren lassen. Aber sie hätte nicht gedacht, dass dies in ganz normalen Wohnzimmern, mitten auf dem Teppich, auf kleinen und auf großen Sesseln und immer wieder auf dem Sofa, auf einer in allen farbigen Varianten doch stets entsetzlich universellen Klappcouch, vollzogen wird. Sie schämt sich. Die Mutter schämt sich für das Möbel. Sie schämt sich für seine praktisch plumpe Form und seine lächerliche Klappmechanik. Sie schämt sich für die grünen und roten Bezugsstoffe aller Sofas ihrer Welt. Ja, das robuste Gebrauchsgewebe dieser Polster beschämt ihr Frau-Sein weit mehr, als es das schwarze oder fleischfarbene Perlon könnte, das sich auf jedem dieser Bilder, zu Falten gezerrt, über die mehr oder minder strammen Schenkel ihrer Geschlechts- und Zeitgenossinnen spannt.
Sie wendet das letzte Blatt. Sogar die Rückseite zeigt ein einschlägiges Foto, zeigt wie zum Hohn, wie um den Trotz, der ihrer Scham entspringt, mit einer weiteren Zuspitzung gezielt zu verspotten, noch eine allerletzte Couch. Ein extraschwarzer Neger dreht ihr den Rücken zu, sie sieht die bleichenSohlen seiner großen Füße, mit merkwürdig gespreizten Zehen ist er dabei, die verlangte Arbeit zu verrichten. Hinter der Sofalehne hängt ein ovaler Spiegel, der ein kleines Stück des Geschehens, ein hochgerecktes, ein erstmals rotbestrumpftes Bein, verdoppelt. Und dann begreift die Mutter den besonderen, den finalen Clou: Die Couch ist weiß. Rundum ist sie mit weißem Leder bezogen, was dem dunklen Mann eine spezielle Erhabenheit verleiht, was ihn, was seine angespannten Hinterbacken, seine athletisch dicken Waden und
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