Roman unserer Kindheit
zugedeckt. Alle treten hinzu, um sich den seltsamen Kasten anzuschauen. Nicht einmal der Ältere Bruder, der schon eine eigene Welt aus Büchern und Comic-Heften, aus dem Radio und aus den Erzählungen der Mutter kennt, hat bislang so ein Telefongerät gesehen. Da plärrt es los! Da klingelt es erneut, als hätte es die Blicke der Kinder auf seinem nackten Schwarz gespürt, und hört nicht auf zu klingeln. Nun, wo es freigelegt ist, tönt sein Signal viel heller, es ist wie ein Alarm. Der Ami-Michi meint, es sei vielleicht ein Aufziehtelefon, und deutet auf die Kurbel, die seitlich aus dem Kasten ragt. Bestimmt sei bald die inwendige Feder abgelaufen. «Soll ich mal drehen?», fragt er, mitten in das nächste Schellen. «Heb lieber ab!», befiehlt Sybille, aber als er sich bückt, als er noch zögerlich, erst halb entschlossen, mit den Fingerspitzen an das kalte Bakelit des Hörers stupst, verstummt der Apparat, und alle fühlen, dass es hiermit endgültig zu spät ist. Ich sehe, wie recht sie haben: Im Kurbeltelefon des Toten, in dessen schwarzem Bauch, hat eben ein eisernes Klöppelchen zum allerletzten Mal gegen eine Halbschale aus Messing gehämmert.
Pling-pling! Pling-plang! Hätte ich Tränen, weinte ich dem heftchensüchtigen Invaliden, weinte ich dem wackeren Kommandanten eine extragroße, eine quecksilbrig schillernde Träne hinterher. Wir waren wahrlich nicht zu lang zusammen.Wieder lag in der Kürze die besondere Würze, der süßscharfe Curry unserer Zeit. Pünktlich zum Monatsersten hatte ich mein Sommeronkelchen aus dem Pflegeheim entführt. Als er, allein im Doppelzimmer, über einem seiner Hefte döste, klopfte ich auf den Tisch und nannte den fast militärisch zackig Hochfahrenden schlicht «Onkel» – mein liebes, im Krieg verlorenes und nun im Heim für Kopf- und Hirnversehrte wiedergefundenes Onkelchen. Und auch die Schwester, die es zum Onkel-Sein und Nichtchen-Haben brauchte, wurde ihm beim Prothesen-Anschnallen eingeflüstert. Mein Nichtengesäusel hat ihn wiederum ohne Umschweif zum Bahnhof geführt und in den richtigen Bummelzug gesetzt. Mein duftig leichtes Sommerkleidchen, mein schulterlanges, von der Sonne fast weiß gebleichtes blondes Haar, das ganze helle Bild des frischgebackenen Schwesterkindes vertrieb ihm auf der Zuckelfahrt die Langeweile. Ich habe ihn vom Oberhausener Bahnhof zu den Garagen bei den Ami-Kasernen geleitet und ihn geheißen, sich dort das Behindertenmobil zu mopsen. Gerade als er schief auf der Sitzbank lag, den Kopf unter dem Armaturenbrett, um die Zündung kurzzuschließen, kam dieser betrunkene Neger angetrottet. Er fragte sogar auf Amerikanisch, ob er helfen könne. Ich zeigte mich ganz kurz im Außenspiegel. Ich zeigte dem Schwarzen mein anderes, mein Schleimgesichtchen, damit er meinen Kommandanten in Ruhe weiterbasteln ließ. Wie abergläubisch so ein Ami-Neger, wie schreckhaft gespenstergläubig sogar ein waschechter Spiegelneger ist! Wie hübsch, wie amerikanisch fromm er sich gegen meinen Anblick bekreuzigt hat! Dann ging es mit Karacho, mit tollem Zweitaktgeknatter unter den Linden den Berg hinauf.
Ich weiß sehr wohl: Ohne sein Sommernichtchen, ohneseine schneeweiße Nichte im August, würde der Kommandant hinein in den September leben und sich noch manches Jahr sein letztes Zimmer mit diesem anderen Hirnverletzten teilen. Ich hab es ratzfatz abgekürzt. Und es tut mir kein bisschen leid, das Topfblumen-Dasein der beiden Invaliden, ihre elend traute Zweisamkeit zerstört zu haben. Ihr Heimtag schlug zwischen «Einen wunderschönen guten Morgen, Kopfschuss!» und «Schlaf gut, träum süß, mein Silberplättchen!» einen kläglich flachen Bogen. Kopfschuss wurde fetter und fetter, während Onkelchen Silberplatte das Essen meist, tief gebeugt über eines seiner Landser-Hefte oder über seine Sammlung Nixenbilder, vergessen hätte, wäre er nicht von seinem Zimmerkameraden in den Speisesaal mitgeschleppt worden. Bei mir dann, unter meiner Führung, hat er sogar noch einmal ein bisschen zugenommen, bei mir hat er über gebratenem Huhn und hartgekochten Eiern kleine, sehr salzige Herrentränen geweint, ein bisschen gekichert, viel vor sich hin geschwatzt und zuletzt sogar noch einen seiner einstigen Panzerkameraden in die Arme schließen dürfen. Auf sich allein gestellt, hätte er nicht einmal den Namen des Fehlharmonikers in seinem lädierten Schädel, im Denkschatten der Silberplatte, wiederfinden können. Bin ich jetzt schuld? Habe ich Schuld daran,
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