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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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ihn fragend anguckt, schiebt er noch hinterher, dass dies natürlich die Wurzeln der Nagelbuche seien. Alle anderen Bäume, die läppischen Spielplatzbäumlein, seien doch viel zu jung, um bis in diese Tiefe hinabzufingern.
    Der Stollen krümmt sich noch ein wenig stärker, und plötzlich steigt sein Boden wieder an. Die Freunde sind sich mulmig sicher, es geht der Mitte entgegen, der Gang will sie genau unter den Stamm der Nagelbuche führen. Schon hängt ihr Wurzelwerk armlang in das Gewölbe, schon müssen sich die beiden Größten, der Wolfskopf und Sybille, ducken, um die Berührung mit dem talgig glänzenden Geschlinge zu vermeiden. Auf Geheiß des Älteren Bruders holt der Schniefer das Messer des Toten heraus. Jetzt, wo er es aufklappt, sehen alle, dass seine Klinge mindestens doppelt so lang ist wie die der Kindertaschenmesser, mit denen sie bisher oben Zweige gehäutet und Kerben in feuchtes Holz geschnitten haben. Inzwischen brauchen sogar die Zwillinge beide Hände, um die dicht herabhängenden weißen Schnüre wie einen Vorhang vor dem Gesicht zu teilen. Die Wurzeln sind gummiartig fest und dennoch ein bisschen schmierig, elastisch und zäh zugleich, und jeder kann sich vorstellen, welche Heidenarbeit es bedeuten würde, diese in sich verdrehten und verkräuselten Stränge einen nach dem andern zu durchtrennen.
    Kaum dass es aufgeklappt war, hat der Schniefer das Messer wieder sinken lassen. Im Affen- und Papageiengeschrei,im lichtfleckigen Grün der Dschungel-Geschichten, die der Ältere Bruder ihnen regelmäßig erzählt hat und hoffentlich auch weiterhin erzählen darf, müsste er diese Waffe nun wie eine Machete schwingen. In mehr als einem Comic-Bild, das er studiert hat, pendeln Lianen zerhauen zur Seite, weil sich ein Held im Lendenschurz seinen Weg durch ein vergleichbares Geschlinge bahnt. Aber seit er der beste Kletterer der ganzen Welt ist und ins Trichterloch der Nagelbuche hinabgelugt hat, weiß er, dass dieser Baum oben wie unten keinen Spaß versteht. Deshalb sagt er den anderen, dass sie kurz stehen bleiben sollen. Die Wurzeln hängen ihnen inzwischen über Brust und Bauch, dem Wolfskopf reichen die längsten bis an die bloßen Knie. Sie treten eng zusammen, denn allen widerstrebt es, sich durch diesen Vorhang zu beraten. Der Schniefer kratzt sich mit der Spitze des Messers den hart gewordenen Rotz vom Nasenloch, dann holt er Luft, um das Unumgängliche mitzuteilen: Die Buche würde sie mit dem, was er jetzt mit einem ihm zugeflogenen Wort ihren Saugbart nennt, erwürgen und austrinken bis auf den letzten Tropfen, falls einer auf den bekloppten Einfall käme, ihr eine Wurzel, ein Würzelchen, auch nur das dünnste Fädchen ihrer Fasern abzureißen. Die Nagelbuche würde dann auch nicht mehr zwischen Mehr- oder Minderschuldigen unterscheiden und keinen, nicht einmal ihn, ihren Erstersteiger, am Leben lassen – und auch Sybille nicht, obschon den Bäumen Mädchen in Sybilles Alter lieber als kleine oder große Jungen seien.
    Oben ist just vom selben Baum die Rede. Oben, in der sonnenhell dahinflutenden Tagwelt unserer Neuen Siedlung, bittet der Kikki-Mann den Huhlenhäusler Achim, ihm zu zeigen, wo der Wellensittich von Sybilles kleiner Schwester, wo das türkise Männchen wieder eingefangen wurde. Obwohles nicht weit ist, schnappt Achim sich sein Fahrrad, setzt sich sogar darauf, tritt aber nicht in die Pedale, stößt sich nur mit den Zehenspitzen ab, rollt neben seinem Nachbarn, dessen dürre Beine Riesenschritte machen, den Drosselgrund hinunter. Als sie im Schatten der Nagelbuche stehen, soll Achim noch einmal erzählen, wie er den Wolfskopf auf die Schultern genommen hat, damit der den Käfig an den Schniefer weiterreichen konnte. Der Kikki-Mann lobt ihn mit extra hoch kieksender Stimme für diese Tat. Und während der blasse Lümmel zum dritten Mal, und nun ganz offensichtlich aufgeregt, das Gleiche mit fast gleichen Worten wiederholt und noch hinzufügt, dass der entflogene Vogel zunächst von unten gar nicht zu sehen gewesen sei, klopft er ihm begütigend auf den Rücken und spürt dabei die starken, krampfig angespannten Muskeln. Mittlerweile hat er begriffen, was Achim so in Rage bringt. Dem Armen ist noch immer schleierhaft, wie es dazu kommen konnte, dass er der Bande um den lahmen Kinderwagenhocker beigesprungen ist. Jetzt sagt er ungefragt, weder das dicke Mädchen noch einer der Jungen hätten darum gebeten. Es sei ihm selber eingefallen. Er habe sich allein dazu

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