Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
Vom Netzwerk:
herunter abzureißen und wieder Wiese anzusäen, wie es ja offensichtlich der Grund, der Boden, die Erde, der liebe Gott oder Wer-weiß-wer wolle.
    Achim entkommt! Schon ist mir Achim ausgebüxt. Er rast, stehend in die Pedalen stampfend, über den Kiesweg Richtung Bärenkeller. Während der Kikki-Mann den Fehlharmoniker und den Mann ohne Gesicht mit Handschlag begrüßte, schien er noch abwarten zu wollen, was die beiden zu sagen haben würden. Als sich jedoch der Vogelzüchter zu Sputnik hinunterbeugte, ihr den Handrücken zum Schnuppern entgegenstreckte und sie ein schönes Tier und eine tüchtige Führerin nannte, begann die Hündin zu knurren. Der Fehlharmoniker griff nach dem Lederbügel, zog sie ein Stück heran, aber sie wurde richtig wild. Und Achim, unser Weißling, nutzte diesen Augenblick zur Flucht – das kurze wirre Weilchen, das die drei Männer und selbst ich, in meiner unschuldigen Wiederkehr, benötigten, um zu begreifen, dass die Hündin nicht den Taubstummen und seine Art zu sprechen, sondern den Stamm der Nagelbuche mit ihrem Zerren und Zähnefletschen meinte.
    Die Kinder hören das tiefkehlige Knurren. Verhallt, vielleicht sogar verstärkt grollt es die Röhre herab, durch die sie Richtung Tagwelt gucken. Jeder sieht, was bislang einzig der Schniefer wusste. Der mächtige Baum ist hohl. Sogardie kurzsichtige Sybille erkennt, wie harmonisch, wie geschmackvoll das Weiß des Wurzelwerks in das Weiß der Höhlung übergeht. Und der gebissene Zwilling, der noch nicht ahnt, dass er schon nächstes Schuljahr, also noch vor Sybille, eine Brille tragen wird, streckt die Hand empor, in einer stummen, hilflosen Sehnsuchtsgeste, die die anderen auch ohne Worte zu verstehen glauben. Alle verspüren den Wunsch, das Innere des Stamms, der sich dort oben über dem Drosselgrund erhebt, mit den Fingerspitzen zu betasten. «Es ist ganz schmierig!», murmelt der Schniefer, der die Röhre von oben als einen der beiden Trichter, aus denen ihm gewunken wurde, kennt. «Und riecht wie Käse, wie gammeliger Stinkekäse!», fügt er noch hinzu, als keiner auf seine Erläuterung reagieren mag. Und dann sagt unser großer Bruder leise, was auch der Schniefer weiß, sich aber weiterhin auszusprechen scheut. Es sei ein Pilz. Sie müssten nur genauer hinschauen, dann sähen sie, dass es ganz viele, abertausend kleine Pilze seien. Sie wüchsen dicht an dicht, Käppchen an Käppchen. Das Weiße sei rundum lebendig. Das Weiße würde die riesige Nagelbuche ungeheuer langsam, sanft mörderisch von innen her, verzehren.
    Dann hören sie die Männer sprechen. Es ist ein Hin und Her, wie es sich für ein Gespräch gehört. Aber der Pilzbewuchs der Nagelbuche verschluckt die winzigen Päuschen, die oben im Sonnenlicht zwischen den Redeteilen der Männer liegen. Auf seinem Weg durch den käsigen Mief rutscht das Gesagte auf das zuvor Gesagte, die Sätze der drei Männer schichten sich übereinander und werden von den schmierigen weißen Kappen mit einem hohl tönenden Echo ausgestattet. Alle hören dennoch mühelos heraus, dass einer der Sprecher der Kikki-Mann sein muss. Sybille erkennt zudem die Stimmeaus dem rosa Block, das mullgedämpfte, angenehm warme Organ des Manns ohne Gesicht. Flüsternd teilt sie es den Freunden mit und legt dem Michi einen Zeigefinger auf die Lippen, als der ihr lauthals zustimmen will, denn erstens hat sie Angst, dass das verpilzte Hörrohr auch in die andere Richtung funktioniert, und zweitens möchte sie jetzt endlich etwas von dem verstehen, was dort oben beratschlagt wird. Vielleicht geht es um ihre vermaledeite kleine Schwester.
    Allein der Ältere Bruder hat auch den dritten Redenden erkannt. Es ist der Mann, der schuld dran ist, dass sich die Eltern mitten in der Nacht gestritten haben. Unser großer Bruder war aufgewacht, weil er die laute, die wütend in die Höhe gepresste Stimme des Vaters aus dem Schlafzimmer der Eltern herüberdringen hörte. Die Mutter sprach viel leiser, und unser großer Bruder erkannte an der Art, wie sie ihre Rede führte, dass sie versuchte, auch den Vater zu einem gedämpften Sprechen zu bewegen. Zuerst hatte er sich mit beiden Händen das Kissen gegen den Kopf gedrückt, jedoch mit derart angespannten Armen konnte er nicht schlafen. Also drehte er sich auf die Seite, beschwerte die Ohrmuschel mit Kopfkissen und Unterarm, aber nun schaffte es das andere Ohr, die Stimme des Vaters aus den Drahtschlingen der Matratze herauszuhorchen. Notgedrungen beschloss er, wenigstens

Weitere Kostenlose Bücher