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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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zu verstehen, worum es drüben ging.
    Er ließ sich aus dem Bett auf den Fußboden sinken und kroch bis an die Wand. Er wusste aus Erfahrung, dass er, die Schläfe auf der kühlen Tapete, besser ins Schlafzimmer der Eltern hinüberlauschen konnte, als wenn er an der Tür zur Küche horchte. Seit jeher nannte der Vater die Leichtbausteine, die zwischen den Zimmern und auch zwischen den einzelnen Wohnungen vermauert worden waren, bloß dieelenden Flüstersteine. Und einmal hatte er, als es am hellen Sonntagvormittag ganz heftig quarrend aus dem Schlafzimmer der Böhms herübertönte, gemurrt, dieses lausige Material, das nur aus blasig eingeschlossener Luft und einer Handvoll dreckigem Kalk bestehe, könne sogar Gedanken und Gefühle übertragen. Und als die Zwillinge prompt anfingen, sich genauer nach diesen hörbaren Gefühlen zu erkundigen, meinte die Mutter ungewöhnlich schroff, sie sollten jetzt auf der Stelle zum Spielen in den Hof hinaus, die Böhm-Mädchen seien gewiss schon draußen.
    Der nächtliche Streit der Eltern ging um den blinden Mann. Jetzt, wo unser großer Bruder die Stimme des Akkordeonspielers aus dem Pilzrohr der Nagelbuche tönen hört, erinnert er sich bis ins einzelne Wort hinein, wie fürchterlich erbittert der Vater aus den Flüstersteinen herausgeklungen hatte. Er sagte, es wäre vielleicht auf die Dauer doch gemütlicher gewesen, blind geschossen aus dem Krieg zu kommen, als sich im Frieden sehenden Auges in einen Arbeitskrüppel zu verwandeln. Es wäre eventuell zu allen Zeiten schlauer, sich einen Hund statt Frau und Kinder anzuschaffen. Deswegen ließ sich der Ältere Bruder am nächsten Morgen von den Freunden in seiner weißen Karre hinüber in den Kreuztöterweg verfrachten. Er wollte sich diesen Blinden, der es mit seinem Schäferhund angeblich so viel besser als der Vater mit ihnen hatte, aus der Nähe begucken. Die Freunde sagten ihm, der Mann mit dem Akkordeon sei ihnen schon eine ganze Weile aufgefallen. Er sitze regelmäßig, vielleicht sogar jeden Tag, in der Lücke zwischen Sparkasse und Lebensmittel-Vetterle und spiele seine komische Musik. Sie seien bislang einfach nicht auf die Idee gekommen, ihm davon zu erzählen. Was denn auf einmal wichtig an dem Mann, anseinem Schäferhund oder an seinem Akkordeon sei? Wenn es ein Geheimnis, eine Geschichte um ihn gebe, möchten sie es wissen.
    Aber der Ältere Bruder verriet den Vater nicht. Stattdessen gab er vor, er habe von dem Musiker geträumt, habe eines seiner Stücke Ton für Ton im Schlaf gehört und wolle nun alles im Wachen wiederhören. Als sie den Kreuztöterweg erreichten und seine Karre als weißer Fleck durchs Fensterglas von Tabak-Geistmann zog, glaubte er längst selbst an das angeblich Geträumte und an dessen anstehende Wiederkehr, doch wie zur Strafe war die Lücke bis an die stacheldrahtgekrönte Bretterwand, die sie begrenzte, tier- und menschenleer. Unser großer Bruder war sich nicht schlüssig, ob er enttäuscht sein sollte. Denn dass die Häuser hier plötzlich so komisch auseinanderklafften, als wären ihre Mauern voreinander zurückgewichen wie in einem Schreck, erschien ihm schon wunderlich genug. Sybille sagte, sie müsse noch ein Brot einkaufen. Also schoben sie ihn zurück, um gemeinsam in die Bäckerei zu gehen.
    «Da ist er ja!», rief der Wolfskopf, als sie das Schaufenster erreichten, so tollpatschig laut, wie es nun einmal seine Art ist, und patschte dazu noch mit der flachen Hand gegen die Scheibe. Während die Zwillinge die Tür aufhielten und die anderen den Kinderwagen auf die Eingangsstufe hebelten, glitt ein erster langer Blick unseres großen Bruders über den Musikanten, über dessen Hund und über das Instrument, von dem der Vater heute Nacht in einem ganz besonderen Ton, mit einer bitteren Wehmut, fast mit einem wehmütigen Hass gesprochen hatte.
    Die Bäckerin war dabei, dem Fremden eine Butterbrezel zu schmieren. Eine erste hatte sie schon fertig liegen. Undals sie beide in eine Tüte steckte, den Preis eintippte und die nagelneue, endlich halbelektrische Registrierkasse mit dem Klingeln aufsprang, das sie in ihrer Geschäftsfrauen-Patentheit für die Musik einer erfüllten Zukunft hielt, wandte der Fehlharmoniker sich den Kindern zu und musterte sie reihum durch seine Blindenbrille. Er schaukelte dazu recht komisch mit dem Kopf, als müsse er das Bild, das er sich Stück für Stück von ihnen machte, wie ein aus unsichtbaren Flicken zusammengenähtes Banner durch den Duft von Brot

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