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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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etwas Allgemeines zu erlösen. Schließlich brachte schon eine ihrer kleineren Grimassen, das absichtliche Schielen, kombiniert mit einem durch Umstülpen der Unterlippe radikalen Entblößen des Zahnfleischs, Schwätzer zum Schweigen, Zartbesaitete zum Erbleichen und Säuglinge zum Greinen.
    Margot war stark, war fast unschlagbar, wenn sie ihren Ausdruck in Stellung brachte. Sie war, als er sie auf der geschlossenen Abteilung im Souterrain des Josephiniums kennenlernte, die einzige Krankenschwester, der die Ärzte ähnlich viel Respekt bezeugten wie die Langzeitinsassen und die kurzzeitigen Bewohner dieses Geschosses. Dort unten gehorchten alle ihr aufs Wort: die Stumpf-Herumhocker ebenso wie die manisch Quasselnden, und erst recht die schamhaft Verlegenen, diejenigen, die es nicht hinbekommen hatten, sich ohne Wiederkehr, mit Stadtgas, mit der Rasierklinge oder mit einer dieser neuen bunten Nylonwäscheleinen, aus dem Diesseits zu befördern.
    Der Kikki-Mann hat es, dies will ich, während er das Endeder Leiter trägt, noch schnell verraten, mit einem guten und zudem noch superglatt eingeseiften Seil aus Hanf versucht. Aber weil er nichts hört, weil er sogar heute, am Tag der Tage, in der Nacht der Nächte, stocktaub sein muss, hat er damals in einer der Baracken am Oberhausener Bahnhof nicht bedacht, dass das Gurgeln seines Erstickens durch das offene Fenster nach außen dringen könnte. Sein Nachbar, der Einbeinige, schnitt unseren Kikki-Mann mit dessen frisch geschliffenem Brotmesser vom Strick. Es lag bei Wurst und Butter mitten auf dem Küchentisch, von dessen Kante aus er lebensmüd ins Leere und, wie er sich bang erhoffte, ins Nichts hinausgetreten war. «Ein Glück, dass du die Klinge scharf gemacht hast! Mit einem stumpfen Messer hätte ich deinen guten Strick nicht schnell genug durchbekommen!», hatte der Einbeinige ihm später bei seinem ersten Besuch auf der geschlossenen Abteilung dargelegt und wortreich bedauert, dass es ihm nicht gelungen sei, ihn geschickter aufzufangen, als die letzten Fasern jäh von allein abrissen. Die Stirnwunde, die er sich, bewusstlos heruntersackend, an der Tischkante geschlagen habe, nehme er mit Bedauern auf seine Kappe. Er hätte ihn auf die Platte, einfach mitten auf den Butterteller, schubsen müssen. Er wolle sich da gar nicht auf sein im Kniescharnier blöd wackeliges falsches Bein berufen.
    Den Schlüssel zieht Sybille dann doch lieber wieder ab, obwohl sie die Versuchung spürt, ihn einfach im Schloss der Gittertür zu vergessen, als ließe sich damit erreichen, hier nicht wieder vorbei zu müssen. Auch unserer Schicken Sybille wäre es lieb, wenn es nun immerzu nach vorn und dann irgendwo, möglichst fern des Bärenkellers, wieder nach oben ginge. Der Ami-Michi sieht ihr zu, sieht sie den Saum desDrachenkleides heben und den Schlüssel erneut hinter den Gummizug ihres Schlüpfers klemmen, und ist heilfroh, dass er sich die Geldbörse geschnappt hat und darum nicht in dieses Auf- und Zuschließen verwickelt ist. Ganz ohne Zweifel stellt die Börse das beste Stück der Beute dar, und dennoch hat er sie keinem weggenommen. Das Portemonnaie der Leiche hat er sich erst gegriffen, als seine Freunde bereits die Dinge ihrer Wahl in Händen hielten. Der Wolfskopf, der Schniefer, die Zwillinge, Sybille und sogar der Ältere Bruder ahnen nicht, wie schwer bedeutend Geld sein kann. Ganz genau, bis in die letzten Erwachsenen-Finessen, hat es der Ami-Michi selbst noch nicht begriffen. Aber jetzt, wo er in seiner Hosentasche nach der prallen Börse tastet, fällt ihm wieder ein, wie heftig, wie innig der Spiegelneger und seine Mutter damals, an ihrem letzten Vormittag, um Geld gestritten haben. Der Ami-Michi hat das entscheidende Wort gleich mehrmals aus dem Schlafzimmer gehört. Es war das Einzige, was er außer dem seltsam amerikanisch ausgesprochenen Vornamen seiner Mutter noch aus dem Fließen und Rucken der fremden Sprache heraus verstehen konnte. Neben dem Küchentisch, die Fingerspitzen auf dem über die Stuhllehne hängenden Hemd des Spiegelnegers, wartete er, bis «Dollars» erneut und mit noch größerer Wucht erklingen würde. Er wusste, er konnte sich darauf verlassen. Auch wenn die Mutter auf den schnell hilflos, schließlich stumm gewordenen, nur noch den Kopf schüttelnden Vater einschimpft, kommt sie zuletzt stets auf das Geld zu sprechen, das der mit seinem Lasterfahren verdient und das aus irgendeinem geheimen Grund immer zu wenig ist. Als er sich dann

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