Roman unserer Kindheit
sie ihn nicht mehr über das Schloss drehen kann. Und als sogar der Unterarm eines Zwillings nicht weit genug durch die Stäbe kommt, um auf der anderen Seite Daumen und Zeigefingergegen die Öffnung zu wenden, scheinen sie aufgeschmissen. Doch dann verlangt der Schniefer, der andere Zwilling solle es gefälligst auch probieren. Und er beweist damit erneut den rechten Riecher. Leichthin, hinweg über die Stelle, wo ihn die Zähne von Sybilles kleiner Schwester gestempelt haben, fast bis zum Ellenbogen, gleitet sein Arm hinein, und schon legt er sich mit der Linken, als hätte er dergleichen tausendmal gemacht, den Schlüssel richtig in die Finger. Er passt. Und mit dem ersten Handumdrehen schließt sein Bart so schmatzend leicht, als hätten Schloss und Riegel, gut geölt oder gefettet, nur auf ihn gewartet.
Es gibt lautloses Glück. Ein Glück ohne Musik. Ein Glück ganz ohne das Wispern einer Stimme, ohne das Beben unserer Trommelfelle. Mit stillem, wildem Feuereifer ist der Kikki-Mann bei der gemeinsam angepackten Sache. Die beiden Invaliden hatten ihn umstandslos verstanden. Vorhin, bei ihrer Unterredung im Schatten der Nagelbuche, kam es kein einziges Mal zu einem jener bei einem Dritten ratsuchenden Seitenblicke, die er kennt, seit er versucht, sich anderen mit seinem mühsam erworbenen Sprechen mitzuteilen. Die beiden erfassten sogleich, was er seiner Margot bis zuletzt vergeblich zu erklären versucht hatte. Schon dies wunderbar synchrone Begreifen wäre Grund genug gewesen, ihnen zu helfen. Als Erstes hat er ihnen verraten, wo sie ganz in der Nähe, unten am Rosenhang, von der Rückseite der Schrebergärtnerkneipe eine Leiter klauen konnten, eine alte, im Sonnenlicht ergraute, aber erstklassige Eschenholzleiter, gerade lang genug, um an die Fensterlücke heranzukommen. Jetzt hilft der Kikki-Mann den beiden, das schwere Ding hinüber in den Drosselgrund zu tragen. Und er ist überschwänglich froh entschlossen, auch beim polizeilichverbotenen Eindringen in den weißen Block der dritte Schuldige zu sein.
Margot hat ihn nicht wegen des Lichts, sondern wegen seiner speziellen Lichtversessenheit verlassen. Beim ersten Mal, damals in den unerhört milden Nächten ihres ersten Sommers, war sie sogar, staunend wie er, im dünnen Nachthemd, die Hände auf die Schlafzimmerfensterbank gestützt, dabei. Aber auf Dauer konnte sie seine Begeisterung nicht ertragen. Ihr frauliches Verantwortungsgefühl durfte nicht akzeptieren, dass ihm das grüne Leuchten in den Folgejahren, sobald die ersten warmen Nächte kamen, ja eigentlich das ganze Jahr hindurch, im Kopf herumging. Margot zog Konsequenzen. Seine Margot verbot ihm schließlich kurz und bündig, nachts aufzustehen, als es in den letzten Julitagen wieder dringlich wurde, als er spürte, dass es drüben in der Lücke schon bald wieder – vielleicht schon in der nächsten Nacht! – so weit sein würde. Zur Sicherheit riskierte er kein Widerwort. Aber Margot bemerkte seine nervöse Spannung, und sie verstand in solchen Sachen keinen Spaß. Am liebsten hätte sie dem Ausschauhalten, seinem Augustlicht-Gaffen einen endgültigen Riegel vorgeschoben. Allein, sie schlief zu gut. Seine Ex-Margot hatte einen Bärenschlummer. Er musste bloß warten, bis sie sich aus der Seitenlage, in der sie ruckzuck eingenickt war, auf den Rücken drehte. Schon war ihr hageres, überscharf geschnittenes Gesicht so weich geworden, wie es bei Tag nie werden durfte, und wenn er seine Hand ganz dicht darüberhielt, konnte er mit den Fingerspitzen fühlen, dass ihr Atem durch Mund und Nase gleichermaßen stark ins Schlafzimmerdunkel strömte. Das nächtliche Hinübergucken in den weißen Block, die bloße Anschauung des Lichts, ist für seine weltkluge Margotnicht der entscheidende Makel seiner Versessenheit gewesen. Darüber hätte sie notfalls noch lachend den Kopf geschüttelt und ihm dann eine jener grässlichen Grimassen geschnitten, die sie selbst nicht ohne Stolz ihre Schreckgesichter nennt. Margot ist in den wenigen Jahren ihres Zusammenwohnens ohne Zweifel, ohne jede ernstliche Konkurrenz, die hässlichste unter den jüngeren Frauen der Neuen Siedlung gewesen. Bereits als Kind galt sie als das hässlichste Mädchen ihrer Schule. Oft und gern hat sie ihm davon erzählt, wie es ihr damals nach und nach gelungen war, das Abstoßende, das für die anderen in ihren Zügen lag, durch eine am Spiegel sorgfältig eingeübte Mimik über die Grenze des Naturgegebenen zu steigern und es damit in
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