Roman unserer Kindheit
Und auch der Schniefer hatte weder Warum? noch Wozu? gefragt, als er ihn draußen vor dem Laden um sein wie immer supersauberes Taschentuch gebeten hatte. In dessen hellblaues Quadrat wurde vor aller Augen die fast unversehrte, die nur ein bisschen angelutschte Pfeife eingeschlagen. Und so, das feucht gewesene Ende aufeinem hellbraun verfärbten Flecken festgetrocknet, steckt das Bärendreckdings ein wenig krumm gebogen, aber noch ungebrochen und unzerbissen, jetzt, wo die Stimmen aus der Nagelbuche plötzlich leiser werden und fast im Nu verklungen sind, in seiner rechten Hosentasche.
Sommernacht
Der Vater, unser nachtragender Vater, versumpft im Affentanz. Die Zeitschrift ist schuld. Als Geistmann sie ihm entgegenschob, hatte er, in einem hin und her gehenden Männerscherz befangen, nicht weiter auf das Titelbild geachtet, sondern die Illustrierte, wie er es immer machte, stramm aufgerollt und in die linke Hand genommen. Aber dann waren an der Kreuzung zum ersten Mal die neuen, die schon vor zwei Wochen aufgestellten, aber bislang blind gebliebenen Ampeln eingeschaltet. Fünfmal hatte es hier im letzten Jahr gekracht, fünfmal war die Polizei vor schief hängenden Stoßstangen und abgesprungenen Radkappen gestanden. Im Frühling war ein Cousin des Weißlings in einen Motorroller gerannt, und man hatte beide, den Huhlenhäusler Bengel und den Rollerfahrer, mit unterschiedlich gebrochenen Knochen vor den Augen der zusammengelaufenen Kinder in zwei ganz gleich aussehende Rotkreuzwagen geschoben. Doch erst als einen knappen Monat später die Müllabfuhr einen Laster der Mohrenbräu AG so rammte, dass hundertundeine dunkelgrüne Flaschen von dessen Pritsche geschleudert wurden und die Kreuzung unter Schaum und Scherben lag, konnte man endlich in der Zeitung lesen, dass die Neue Siedlung vom Verkehrsamt ihre allererste Ampelanlage spendiert bekommen würde.
Vorhin, auf dem Hinweg, hatte der Vater noch beobachtet, wie ein älterer Elektriker seinem Lehrling etwas erklärte,vorbeilaufend hatte er einen Strang aus bunten Kabeln gesehen, der sich zwischen den beiden aus der Klappe im schlanken Stamm der Ampel drängte, als wollte sein Kupfer dem anstehenden Dienst in allerletzter Minute entkommen. Kurz war der Vater froh gewesen, dass er sich auf der Baustelle, so sehr er ihrer Steine auch überdrüssig war, wenigstens nicht mit solch kompliziertem Kram abmühen musste. Inzwischen schienen die beiden Blaukittel alles fertig angeschlossen zu haben. Zumindest standen sie an die Pritsche ihres Werkstattwagens gelehnt und rauchten Filterzigaretten. Als die Ampel vor ihm auf Rot sprang, entrollte er die Zeitschrift, blickte auf deren Vorderseite, und das verfluchte Bild schlug ein. Der Vater sah eine junge Frau am Strand, sah eine ungewöhnlich große Sonnenbrille und fettig geschminkte Lippen. Er sah die Sommerschöne lachend unnatürlich große Zähne blecken und musste erkennen, was sie unter ihrem giftgrün gepunkteten Bikinioberteil maximal, bis an die Grenze seines Faltbalgs, auseinanderzerrte: ein winziges Bandoneon, ein Zirkusinstrument, ein lächerliches Clownsakkordeon. Den Blick abreißend, bemerkte er, dass hinter den müßigen Elektrikern der Bus den Kreuztöterweg herabkam, und schon war beschlossen, diese verdammte Zeitschrift nicht, wie eben noch vorgesehen, nach Hause an den Küchentisch zu tragen, sondern hinunter nach Oberhausen in den Affentanz.
Jetzt ruht die Illustrierte auf dem sonnigen Tresen. Der Vater ist der einzige Gast, für ihn wurde vorhin ein allererstes Bier gezapft. Der Wirt hat sich, um nach langer Kneipennacht und wieder viel zu kurzem Schlaf endlich richtig wach zu werden, einen starken Kaffee gekocht. Nun riecht die leere Gaststätte komisch verkehrt nach dem frisch aufgebrühtenPulver. Der Wirt spürt wohl, wie falsch es aussieht, dass er an einem Kaffeebecher nippt. Auf seinen frühen Kunden, der grimmig entschieden scheint, sich am hellen Nachmittag zügig zu betrinken, könnte dies unredlich wirken. Also setzt er ein Gespräch in Gang, das sein anstößiges Verhalten kaschieren soll. Er fragt den Vater nach der Hand, und der zeigt ihm die rosig verheilte Narbe, lässt den Daumen kreisen und die Finger spielen, um zu demonstrieren, dass wirklich keine Sehne zu Schaden gekommen ist. Der Wirt schenkt sich aus der Thermoskanne nach, fragt, ab wann es wieder mit der Arbeit losgeht und wo die Baustelle gerade liegt. Und während der Vater ins Reden kommt, fällt der Blick des Gastwirts auf
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