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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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hinausschlich, als er die Wohnungstür, ohne das kleinste Geräusch zu machen, hinter sich zuzog, entglitt ihm allerdings, was erschreckkurz verstanden hatte: Geld ist das, was sich immer knapp, immer angstknapp anfühlen muss, sogar, ja ganz besonders dann, wenn irgendwo ein Riesenbatzen davon angehamstert worden ist.
    Die Leiter ist eben lang genug. Sie reicht gerade zwei, drei Handbreit über das Fensterblech, das der Vater der Brüder einst auf feuchten Mörtel drückte und dessen verzinkte Schräge inzwischen von einem dicken Panzer aus Vogelkot bedeckt ist. Der Mann ohne Gesicht hält den Kikki-Mann, der den Fuß schon auf der untersten Sprosse stehen hat, am Ärmel zurück. Schnell ist dem Fehlharmoniker gesagt, was der dem Taubstummen umgehend ins Gesicht spricht, frontal und so langsam, dass es dessen geübter Blick mühelos von den Lippen liest: «Erst steigt derjenige hinauf, bei dem es nichts mehr ausmacht, falls er beim Runterfallen auf die Schnauze knallt!» Dem kann der Kikki-Mann nicht widersprechen, also hilft er die Holme halten, während der Mann ohne Gesicht die quarrenden Querstreben nach oben klimmt.
    Im Mai vorigen Jahres, als der Frühling von einem Tag auf den anderen, verspätet, aber dafür ungut hitzig über die Siedlung hereingebrochen war, machte die gute Margot ihrem Gatten klar, sie wolle ab sofort kein Wort mehr, nicht den kleinsten Kiekser über dieses grüne Leuchten hören. Er dürfe ihretwegen gern bei Tage, von ihr aus täglich und stundenlang, beobachten, wie die sturzblöden Vögel des Drosselgrunds in den weißen Block hineinflögen und wieder herausgeflattert kämen. Sie würde sich sogar, falls ihm dies eine Freude mache, an ihren freien Tagen mit einer Illustrierten danebensetzen. Und wenn dann irgendein besonderer Piepmatz auf dem verschissenen Fensterblech gelandet sei, solleer ihr in Herrgottsnamen bis in die kleinste Schwanzfeder erklären, um welche Meise oder Drossel oder Krähe es sich jeweils handle. Warum der grüne Anstrich da drüben, in dieser nie benutzten Küche, anscheinend jeden August eine gottverdammte Nacht lang glimme, sei ihr eigentlich piepegal. Aber sie wisse aus Erfahrung, aus mittlerweile zehn Jahren in der geschlossenen Abteilung, was für seinesgleichen bekömmlich sei und was unweigerlich über kurz oder lang ins Schlimme hinüberschlage.
    «Mürgüt hüt rücht. Mürgüt hüt ümmür rücht gühübt. Übür wür Münnür künnün gür nücht ündürs!», flötet der Kikki-Mann jetzt vor sich hin. Er will es wohl nur zu sich selber sagen, aber weil ihm das Senken der Stimme, jede Art von Flüstern noch viel schwerer fällt als ein gleichmäßig lautes Sprechen, hört der Fehlharmoniker ein komisch jodelndes «Gütt, gütt, gütt   …!» und denkt, den Aufstieg seines Kameraden vor Augen, der Taubstumme wolle mit einem frommen Wunsch verhindern, dass etwas schiefgehen könne. Wie man sich männlich täuschen kann! Ich weiß, Margot hatte tatsächlich recht. In ihrem letzten gemeinsamen Sommer ist unser lieber, unser leider unheilbar grünsüchtiger Kikki-Mann ab dem ersten August ausnahmslos jede Nacht am Fenster gestanden. Seine tief schlummernde Gattin wäre ihm und seinem erwartungsgeilen Gucken nicht auf die Schliche gekommen, hätte er es zuletzt, wie in all den vorausgegangenen Nächten, zurück ins Bett geschafft. Stattdessen stürzte er ausgerechnet in der einzigen leuchtgrünen Nacht des Sommers mit jenem einen Anfall, der ihn alljährlich heimsucht, vor das Fußende des Bettes. Wie er dalag, die Fußsohlen fast an der Fensterwand, verriet dann seiner Margot, die ihm, von seinem Hinkrachen aus einemTraum gerissen, sofort fachfraulich beistand, dass er nicht bloß auf dem Klo gewesen war. Wie sie ihn auf die Seite zog und ihm den Mund aufzwang, um sicherzugehen, dass ihm die Zunge nicht in den Hals gekippt war, sah sie: Sein linker oberer Schneidezahn war bis an die Wurzel abgeschlagen. Später, im Morgenlicht, entdeckte Margot die kleine Kerbe, die dieser in das Fußteil des Betts gehauen hatte. Sie suchte nach dem Zahn. Sie suchte wirklich gründlich. Und erst, als sich das weiße Plättchen weder unter dem Bett noch sonst wo finden ließ, beschloss sie, ihren Mann am kommenden Wochenende, an dem sie wegen angelaufener Überstunden drei volle Tage frei und damit genügend Zeit zum Packen haben würde, für immer zu verlassen.
    Der Mann ohne Gesicht ist oben angelangt. Er steckt den Kopf für einen ersten Blick ganz in die Lücke. Er

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