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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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rüttelt an den Brettern, um sich ein größeres Loch zu reißen. Aber das Holz und seine Vernagelung halten stand. Von unten sehen seine Helfer: Er steigt von der drittletzten auf die vorletzte Sprosse, schiebt eine Pobacke aufs schmale Fensterblech und drückt sich in den Spalt. Jetzt stößt er sich mit einem Fuß von der obersten Sprosse ab und kippt – das Zappeln seiner Beine verrät noch kurz die Absichtslosigkeit – nach innen. Die Sohlen seiner schweren Stiefel schwingen Richtung Himmel. Und schwups! ist er verschwunden.
    Der Mann ohne Gesicht ist weg. Die leere Leiter liegt schon wieder still. Aber an ihrem Fußende geht noch immer eine erstaunliche Menge abgeplatzten Vogelkots auf die Männer nieder, die die Holme halten. Der Fehlharmoniker hat die Lider hinter den Brillengläsern geschlossen, er drückt das Kinn fest auf die Brust, spürt Brocken und Bröcklein auf seine Hände und auf seinen Nacken rieseln, währendunseren Kikki-Mann die Unternehmung nun, wo der weiße Block einen ganzen Mann geschluckt hat, erst recht entzückt. Kieksend und juchzend hält er dem weißen Dreck, dem wunderbaren, dem märchenhaften Sommerschnee die offenen Augen, den aufgesperrten Mund und damit auch seine in der einzigen leuchtgrünen Nacht des Vorjahrs geschlagene Zahnlücke entgegen.

Sommernacht
    Ich muss mich schwer, ich muss mich wichtig machen. Ich muss den Winkel, der mich überdauern lassen könnte, in diesem Oben und Unten finden und mich in sein Lakritzschwarz bergen. Ich bin nicht viel. Aber ich bin nicht nichts. Und dieses nichtige Etwas, mein bisschen Erdenschwere, will sich nicht anders als die anderen über die letzte Runde, durch die Nacht der Nächte retten. Ich wahre meine Chance und sehe: Der Mann ohne Gesicht kommt nicht zurück. Er lässt sich, obwohl der Fehlharmoniker, die Hände am Mund, den Kopf im Nacken, so laut er kann, seinen Namen ruft, einfach nicht mehr im Schlitz des weißen Blockes blicken. Sein Kamerad verstummt, reißt sich die grüngetönte Brille von den Augen, er späht mit pendelndem Gesicht hinauf. Sputnik, die den Aufstieg mit offenem Maul, mit dem gläubigen Hecheln eines braven Hundes verfolgt hat, bellt schon zum dritten Mal, so laut und präzis, als wollte sie mit einem einstudierten Signalruf das Wiederauftauchen des Verschwundenen erzwingen.
    Da fühlt der Kikki-Mann seine Gelegenheit gekommen. Ohne zu fragen, setzt er den Fuß aufs Holz und steigt hüpfend in die Höhe. Der Fehlharmoniker hat Mühe, das Schwingen der Leiter halbwegs zu dämpfen. Offenbar kann der Taubstumme nicht erwarten, am fraglichen Fenster anzulangen. Obschon helllichter Nachmittag ist, glaubt er sich dem nächtlichen Leuchten so nah wie noch in keinem Sommer.Er ist sich sicher, dass der Mann ohne Gesicht da oben, in der grüngestrichenen Küche, bereits genießt, worauf er schon so lang sehnsüchtig wartet. Es muss etwas einmalig Schönes, es muss die reine Freude sein.
    «Langsam! Um Gottes willen langsamer!», ruft ihm der Fehlharmoniker vergeblich hinterher. Der Kikki-Mann, der dies wie alles andere nicht hören kann, hat den Fuß schon auf der vorletzten Sprosse, die Hände im Vogelkot des Fensterblechs. Er sieht die grüne Wand, und er bekommt, als er, vom Aufstieg heftig schnaufend, den Kopf in den Spalt steckt, eine Unmenge feiner, scharfkantiger Partikel in die Kehle. Es kratzt entsetzlich. Ihm, dem Fachmann, dem Liebhaber und Kenner, ist sogleich klar, was ihn da krächzig husten macht. Es handelt sich um den merkwürdig splittrigen Staub, der entsteht, wenn hohle Federkiele brechen, wenn das scheinbar unverwesliche Kleid der Vögel in die erste Phase seiner langwierigen Auflösung getreten ist. Dadrinnen, er stemmt sich auf das Holz des Fensterrahmens, ist eine Menge dieses tückisch ungesunden Stoffes emporgewirbelt worden. Das macht ihn vollends gierig. Hustend dreht er die Schulter in den Schlitz. Mit brennenden Augen überblickt er den zwielichten Raum.
    Es ist eine der Wohnküchen, wie sie sich in allen fünf Blöcken finden lassen. Keuchend und zwinkernd erkennt er rechts das runde Abzugsloch für das Rohr des Kohleofens, und auch die Stöcke für die dann nicht mehr eingehängten Türen finden sich an den üblichen Stellen. Aber die drei dunklen Rechtecke, die auf den Flur, ins Eltern- und ins Kinderschlafzimmer hinüberführen, sind zu niedrig, gerade hoch genug, dass sie ein großes Kind, ohne sich zu bücken, durchschreiten könnte. Verwirrt schaut der Kikki-Mann zurDecke, aber

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