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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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nach der Gasleitung! Am Knick geht es links nach oben!», rief ihm der Kommandant zu, so klar und entschieden wie einst in seinen besten Zeiten. Und dann sah er ihn schweben, in voller Montur, die Panzerbrille lässig in die Stirn geschoben. Bloß unten war ihr stolzer Kommandant deutlich verkürzt. Es fehlten Füße und Unterschenkel. Die mussten ihm auf dem Weg hierher abhandengekommen sein. Als er nicht gleich reagierte, fügte die alte Frau, die aus den Federwirbeln wie aus einem Schneesturmzum Kommandanten aufgeschlossen hatte, noch extra barsch hinzu: «Reißen Sie sich zusammen, Mann! Andere sind mausetot. So eine Nase ist doch nicht die Welt. Ansonsten sind Sie schließlich noch, oben wie unten, mit allem, was ein Kerl braucht, ausgestattet!» Zweifellos war diese Frau, obwohl sie nur ein Nachthemd, ein kohlenschwarz beflecktes, langes Nachthemd mit hochgeknöpftem Kragen trug, eine Autoritätsperson, eine, der man besser widerspruchslos und ohne Verzug gehorchte, zumindest solange man darauf angewiesen war, dass sie einem einen Trinkhalm durch den Verbandsmull oder die Bettpfanne unter den nackten, zum Glück unverschmorten Hintern schob.
    Der Mann ohne Gesicht dreht sich einmal um die eigene Achse und sieht dabei den Fensterspalt, aber bevor er sich über den Lichtstreif freuen kann, packt ihn erneut ein schlimmer Brechreiz. Er denkt, dass es wiederum ans Federnspeien geht. Aber stattdessen schießt ihm eine grünliche Fontäne, ein ganzer Schwall faulig, nach Algen, Schlamm und Entengrütze schmeckendes Wasser aus dem Hals. Dann scheint es gut. Der Mann ohne Gesicht atmet tief durch. Tränen der Erleichterung rinnen ihm über die Wangen, er spürt nur ihren Austritt, nicht ihren Verlauf, denn auch nach dem großen Federbad bleibt das Terrain zwischen Augen und Mund empfindungslos. Als Ausgleich, als kleine sinnliche Entschädigung darf er es überdeutlich krachen hören. Es ist der schöne Knall, mit dem die Leiter zum zweiten Mal gegen das Haus fällt. Die Holme schaben auf dem Fensterblech, er lauscht, das Herz klopft ihm vor Freude, dem Stapfen, mit dem ihm einer nachgeklettert kommt. Gleich wird er sehen, dass der brave Achim, obwohl er wie alle Huhlenhäusler den freien Blick aus größerer Höhe schlecht verträgt, den Aufstieggewagt hat. Es ist ein Glücksmoment: Nicht nur unsere erztüchtige Oberschwester Emilie Roser und mein braves, über einem miserabel zusammenkolportierten Kriegsroman dahingegangenes Kommandantchen haben ihm beigestanden, auch von seinen lebenden Kameraden, die sich unten, draußen vor dem weißen Block, gegen die Leiter stemmen, wird der Mann ohne Gesicht, der erstmals seine Maske aus Mull verloren hat, nicht im Stich gelassen.
    Der Schuh allein, der nackte, kalte Schuh hätte unserer Schicken Sybille gewiss gereicht. Das rohe, das ungekochte, bloß weißgebeizte Leder hätte es auch getan. Aber als sie dann hinten im Kellereck vor dem alten Gasherd standen, war Sybille gleich ihren Freunden vom strahlenden Blau der drei oberen Flammenkreise ein langes Weilchen wie benommen. Der Schniefer drückte die Schienbeine gegen die offene Klappe des Backrohrs und beugte sich vor, um beide Hände über dem kleinsten Kreis zu wärmen. Ewig hätten sie sich anschauen wollen, wie heilig ernst, wie frei von Zweck und Nutzen, wie unbemerkt von allen Großen hier unten das gute Stadtgas zu Ehren der Welt verbrennen darf. Sybille ging als Erste in die Hocke. Eigentlich wollte sie bloß nachsehen, ob auch innen in der Röhre die blauen Flammen, die blauen Reihen ihrer Lieblingsflämmchen aus den Löchern leckten. Aber wie es der Teufel will: Gleich mit dem ersten Hineinsehen macht der Braten sich wichtiger als sein Feuer. Mitten im Backrohr, mittig auf dessen Schiebegitter steht hohl und leer und zugleich kindisch protzig die zweite der weißen Sandalen. Die Sohle hat sich buckelig emporgewellt, und der gelochte Riemen ragt korkenzieherartig in die Höhe. Der Ältere Bruder, der, geschickt auf die linke seiner Krücken gestützt, neben ihr in die Knie geht, fischt das Ding mit derSpitze der rechten heraus. Der Wolfskopf nimmt die Sandale in Empfang, wirft sie zur Abkühlung ein Weilchen zwischen den Händen hin und her und schnallt sie dann, neben der zuerst gefundenen, an den anderen Lederhosenträger.
    Oben, gerade mal eine Spanne Beton und eine Lage Fußbodenbretter über ihren Söhnen, weiß die Mutter, wie man eine defekte Sicherung überbrücken kann. Und weil der Vater, seit er

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