Roman unserer Kindheit
massierte, dämmerte ihr, dass es der Angst, die ihr aus der Kehle langsam in den Kopf aufstieg, um mehr als einen lausigen Meniskus ging. Sie riss die Handtasche vom Bett und rannte ohne ein Abschiedswort hinaus. Die beiden Männer sollten ruhig denken, was Männer sich in solchen Augenblicken von den Frauen dachten.
Im Bus hoch in die Neue Siedlung scheint ihr nun vollends klar, dass die Panik, die sie niederkämpft, der Kleinen gilt. Hätte sie ihr Töchterchen doch bloß ins Krankenhaus mitgenommen, anstatt sie in der Obhut der großen Schwester zurückzulassen. Sybille ist patent und tapfer, aber bei der Kleinen bahnt sich etwas an, was über ihre Mädchenkräfte geht. Im Hof kann sie dann keine ihrer Töchter, auch keinen von Sybilles Freunden entdecken. Die Wohnung ist leer. Sie klingelt gegenüber. Ihre Nachbarin kommt, das Kaffeeglas in der Hand, zur Tür und weiß zumindest, dass die ganze Truppe Richtung Spielplatz losgezogen ist und dass die Kleine vorhin, anscheinend nur ganz kurz, wieder zu Hause war. Weil sie das Fahrrad der Nachbarin vor dem Eingang hat stehen sehen, bittet sie darum, es sich schnell ausleihen zu dürfen. Ihr bleibe jetzt schlicht keine Zeit, das eigene aus dem Keller hochzuholen.
Die Mutter sieht durch das Fenster, wie heftig Annabett Böhm in die Pedale tritt, und ärgert sich, dass es in der Eile nicht möglich war, sie zu bitten, ihr beim Beiseiterücken des Sofas zu helfen. Und auch den Staubsauger der Böhms hätte sie sich, wäre sie zu Wort gekommen, gern ausgeborgt. Ihr eigener, das durchgebrannte Ding, ist noch im Kinderzimmer. Die Mutter will ihn nun doch hinüber in den Kreuztöterweg zu Elektro-Lutscher tragen. Vielleicht lässt sich der Motorauf der Ladentheke, wie es Herr Lutscher manchmal macht, um vor den Kundinnen mit seinen fachmännischen Künsten anzugeben, ohne große Umstände wieder zum Laufen bringen. Sie geht zurück ins Kinderzimmer. Der Sauger liegt auf dem schmalen Läufer zwischen den Betten ihrer Söhne. Die Mutter will sich bücken, da sieht sie, was in der oberen Etage des Doppelstockbetts nicht stimmt. Vorhin hat sie das Kopfkissen aufgeschüttelt und die Decke gefaltet. Jetzt wölbt sich ihr hellblauer Bezug merkwürdig voluminös gegen die Wand. Die Mutter stellt ihr Kaffeeglas auf das Regal direkt vor die Sammlung wilder Plastiktiere. Obschon es bloß darum geht, einen Zipfel mit links zu packen und die Decke des Zwillings, der seit zwei Tagen der Gebissene ist, ruckartig wegzureißen, will sie beide Hände frei haben für das, was nun anstehen mag.
Wo ist das Kleid nur hin? Wo steckt das Hemdchen, wo stecken der Schlüpfer und die beiden Söcklein? Während die Schuhe, Sybilles alte Sandalen, im Bärenkeller, vor der Brust des Wolfskopfs, die steile Eisentreppe nach oben schaukeln, fragt sich die Mutter im Kinderzimmer, wo Sybilles kleine Schwester ihre Kleider gelassen haben könnte. Das Mädchen liegt splitternackig auf dem dunkelblauen Laken, die Knie an die Brust gezogen und beide Hände vor dem Mund. So dreht sie sich zu uns und schaut uns an. Die Mutter erkennt, was für ein Ding Sybilles kleiner Schwester zwischen den Zähnen klemmt. Das weiße Plastik ist gründlich eingespeichelt. Die Kleine saugt und sabbert. Die Spucke wirft feine Bläschen. Womöglich hat das meschugge Mädchen dem besten Stück der Sammlung, bestimmt hat sie mit ihren scharfkantigen Zähnchen dem weißen Grizzlybären, dem ganzen Stolz der Zwillinge, schon Dellen in Haupt und Hals gekaut.
Der Himmel ist wie schwarz gelackt. Aber was kümmert das zwei alte Panzerfahrer, was kümmert unsere beiden wackeren Invaliden, wie grandios die Nacht über dem Bärenkeller prangt. Sie haben jetzt keinen Sinn für solch kosmischen Zinnober. Der Fehlharmoniker hat bloß die grüne Brille abgenommen und ordentlich in ihrem Etui verstaut. So hat er es an den vorausgegangenen Abenden seiner Versehrung stets gehalten. Wie immer stellt sich auch jetzt der vielleicht trügerische, aber gnädig angenehme Eindruck ein, sein Sehschlitz in die Nachkriegswelt würde, nach dem Abgang der Sonne und ohne den Filter des getönten Glases, empfänglicher, ja sogar ein wenig breiter als untertags. Der Mann ohne Gesicht, der aus der Waldzeit die Goldfleckmuster kennt, die der Jahreskreis unserer Breiten auf schwarzer Schleppe über den Himmel zieht, wäre der Richtige, um zumindest einen knappen, gelehrt vergleichenden Blick hinaufzuschicken. Aber er kommt, seit sie die erste der alten Kastanien
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