Roman unserer Kindheit
angegriffenen Vater ins Gesicht, und beide können schmecken, es ist salzloses Wasser, das zukünftige Wasser eines Sees, der jetzt gerade, während der Vater im Tunnel träumt, auf der anderen Seite der Stadt von Baggern, die Kies für den Autobahnbau schürfen, ausgehoben wird. Der Vater fühlt sich dicker, schwerer und auch erschöpfter als eben noch im Josephinium. Über den Gürtel hängt ihm eine veritable Wampe, und langsam begreift er, dass auch seine Kaputtheit gar nicht vom Bier herrührt und auch nicht von den müdgelaufenen Beinen, sondern aus dem letzten Drittel jener fünfzig Lebensjahre stammt, die er in diesem Wassertraum schon auf dem Buckel hat. Wie ist er nur ein derart alter Sack geworden? Egal, der Feind steht da und schreit ihn an. Er schreit, dass er den Vater fertigmachen wird. Es ist ein noch recht junger, weißblonder Mann. Und jetzt, beim Rückwärtsschreiten, Schrittchen für Schrittchen in den See hinein, erkennt der Vater an der Stirn, an den komischen Höckern über den farblosen Augenbrauen, dass er einen Huhlenhäusler vor sich hat. Über zehn Jahre hat er keinenmehr gesehen. Seit die Sippe von einem Tag auf den anderen aus ihren Wohnungen im türkisen Block verschwunden war, hat man in der Siedlung nie wieder etwas von ihnen hören müssen. Heut aber ist der Tag der Wiederkehr. Er hätte an diesem verfluchten Freitagabend lieber, zerschlagen, wie er von der Arbeit war, nach Hause fahren sollen. Doch die Kollegen wollten noch hierher, an den Autobahnsee. Es sei doch bloß ein Katzensprung, und nirgends schmecke das erste Bierchen des Wochenendes besser. Kaum dass sie auf der Terrasse direkt am Wasser saßen, gab es auch schon Streit mit drei jungen Kerlen. Der Vater macht noch einen Schritt zurück, tiefer ins Wasser. Der Anführer der rauflustigen Burschen, dieser bleiche Wiedergänger, war ohne Vorwarnung auf ihn losgegangen, er spuckte nicht einmal die Filterzigarette aus, die ihm samt einer langen Aschenase vor den Lippen hing. Als unseren Vater der jähe Schwinger am Ohr erwischte, wusste er, dass ihm sein frischgebackener Feind an Jugend, Kraft und Schnelligkeit haushoch überlegen war. Also ließ er sich, das Bierglas noch in der Hand, rückwärts über das niedrige Geländer in den See, ins sommerlich warme Wasser fallen. Die anderen dachten, er wäre bereits ausgeknockt. Das brachte schon mal ein bisschen Zeit. Während er auf allen vieren ein Stückchen in den flachen See hineinkroch, hörte er den Angreifer die Holzstufen herunterpoltern. Am Ufer schlüpfte er, höhnend und drohend, aus seinen Schuhen.
Ein Glück, dass er die Treter schonen will. Der Vater hat sich aufgerichtet. Im Krebsgang geht es langsam weiter in den See hinaus. Hauptsache, der andere merkt nicht, was im Schwange ist. Schon spielt dem Vater das Wasser lau um Bauch und Hüften. Der junge Huhlenhäusler ist nicht besondersgroß. Das Wasser wird ihm bis an den untersten Rippenbogen reichen, wenn er es hinkriegt, dass sie sich gemeinsam drehen, dass der Angreifer seewärts zu stehen kommt. Es ist schon ewig her, der Affentanz kaum mehr Erinnerung, das Messer, das die Hand schnitt, längst zerbrochen, aber der Vater weiß noch immer, wie man einen Huhlenhäusler reizt. Also nennt er ihn erst mal einen armseligen Scherenschleifer, dann einen Löffelschnitzer und Zigeuner, schließlich, das setzt der Wut den Glutpunkt, einen bleichgekochten Neger.
Es klappt. Im Halbkreis rückwärtstippelnd, hat er den Weißblonden im tieferen Wasser vor sich. Jetzt wird ihm seine Schnelligkeit höchstens noch halb so viel, jetzt wird ihm die beste Beinarbeit der Welt so gut wie nichts mehr nützen. «Mach ihn kaputt, Achim! Hau ihm die Rübe runter, hau ihm die alte Fresse weg!», rufen die Kumpane des Huhlenhäuslers, während seine beiden Kollegen, die wie er nicht mehr die Jüngsten sind, verschreckt die Klappe halten. Der Vater hat genau ein Bier getrunken, exakt die Menge, die es ab fünfzig braucht, um messerscharf zu denken, exakt das Quantum, um gerade so weit in die Zukunft hineinzuschauen, wie diese Chose jetzt noch dauern wird. Gleich kommt der Schlag. Bestimmt wieder mit rechts. Bestimmt wieder ein plumper Schwinger, dem dieses Mal die nötige Beschleunigung aus der Hüfte fehlen wird. So einen Schlag blockt man mit links zur Seite. Und gleichzeitig, in ein und demselben Bewegungsfluss, setzt man die Rechte an das ungeschützt emporgereckte Kinn. Achim, unser im Schrotthandel vollends stark, aber auch vollends
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