Roman unserer Kindheit
obwohl er in diesem Augenblick kein bisschen an die Grippe glaubt, genauso wenig, wie er in Momenten, in denen es eine hübsch naheliegende Entlastung wäre, an einen Gott glaubt. Und dann entschuldigt er sich noch pro forma bei Schwester Innocentia für seinen gottverdammten Fluch; denn hier im Josephinium gehört es sich, dass auch der Chef Bedauern heuchelt, sobald er Gott auf den Schlipsgetreten ist. In Wahrheit, hinter seiner Doktorstirn, in seinem Doktorherzen und tief in seinen Doktoreingeweiden, ist sich Hermann Arthur Felsenbrecher absolut sicher, dass nicht einmal seine kugelrunde Lieblingsschwester auf jenen armen Kerl vertraut, der hier hundert und mehr Mal, immer ähnlich schön gemartert, unter den geweißten Decken hängt. Im Zustand höherer Trunkenheit behauptet er sogar noch Ärgeres von seinen Schwestern. Erst gestern, als er so lang wie jeden ersten Sonntagvormittag im Monat mit Gottfried Döbel, seinem Apothekerfreund, in der Weinstube Wolff beim Frühschoppen beisammenhockte, konnte man ihn herausposaunen hören, selbstverständlich rechne keine einzige seiner scheinheiligen Haubenlerchen mit der Vergebung ihrer Sünden und der Auferstehung ihres Fleisches. Schließlich seien die katholischen Schwestern hartgesotten. Allein das Leid der mit Gottes fragwürdiger Hilfe zu früh Geborenen zu erleben, brühe diese der Kinderlosigkeit geweihten Frauen doch ab bis auf die Knochen. Denen tauge das Folteropfer mit dem schick drapierten Hüfttuch allenfalls noch für eine kleine Entspannungsphantasie vor dem verdienten Schlummer.
Jetzt überlegt er, ob er den Jungen besser dabehalten soll. Falls es ernst würde, dürfte man keine Zeit verlieren. Er amputiert recht gern. Ein Raucherbein nach allen Regeln der Kunst unter dem Knie oder notfalls auch darüber in einen perfekten Stumpf zu verwandeln, hat ihn fast immer, allein schon weil es einen prächtigen Aufwand darstellt, erschöpfend befriedigt. Aber den Kindern nimmt er ungern mehr als die Mandeln oder den Blinddarm weg. Sogar den Wurmfortsatz, diese unerklärte innere Arabeske, ließe er bei seinen kleinen Klienten lieber an Ort und Stelle. Solange unserfleischliches Labyrinth noch wächst, sollte man von seinen dunklen Gängen, wenn irgend möglich, die Finger lassen. Das Fieber ist ihm ein Rätsel. Eventuell hat dieses magere Kerlchen einfach Künstlerpech. Der Junge guckt allzu verständig aus der Wäsche. Was ihm da in den Augen blaut, könnte das Übermaß an Hellsicht sein, aus dem sich irgendwann betrügerischer, mit Glück vor allem selbstbetrügerischer, mit übergroßem Ausnahmsglück sogar ein künstlerischer Mehrwert schlagen ließe. Aber in einem dunklen Zwang ziehen sich die Hellsichtigen stattdessen eher eine Serie aus exquisiten Missgeschicken auf den Hals. Die meisten der potenziellen Bildermacher gehen zugrunde. Schnell einen Witz! Dem Buben schwant etwas, also muss es nun eine Geschichte sein, deren Gang sowohl das Gekränkel als auch die Doktorei veräppelt.
Die Mutter jedoch, von der der Ältere Bruder die blauen Augen hat, spürt längst, was los ist. Sie sieht, wie hilflos fragend, wie tollpatschig, wie verräterisch unentschlossen die großen Hände des Professors die Wade, dann das Knie und schließlich noch den Oberschenkel ihres Sohns betatschen. Sie sieht die ärztliche Zeigefingerkuppe einer unsichtbaren Linie folgen, als könnte dieses Streichen in magischer Vorwegnahme verhindern, dass ein bestimmter Strich in Rot oder in Blau Erscheinung wird. Jetzt zupft er an den Zehen herum, während er einen Doktor-und-Patient-Witz auf die Spur setzt: Ein Mann, der immer dünner wird, obwohl er futtert wie ein Scheunendrescher, erfährt von seinem Hausarzt, er beköstige ein Tier als inneren Untermieter, einen aus bleichen Platten zusammengesetzten Primitivling, einen Wurm. Prompt graust es dem Patienten ganz schrecklich vor sich selber. Sein Onkel Doktor weiß ihn zu beruhigen.Alles halb so schlimm! Es gebe nicht nur eine, sondern gleich zwei Methoden, einen solchen Schmarotzer loszuwerden, eine brutale, schnelle, bei der man den heimlichen Gast vergifte, und eine behutsame, die allerdings ein bisschen Zeit in Anspruch nehme. Der Patient entscheidet sich für die sanfte Tour und wird aufgefordert, zum nächsten Termin einen kleinen, gewaschenen und entstielten Apfel und ein hartgekochtes, säuberlich abgepelltes Ei in die Praxis mitzubringen. Außerdem sei, für den Schlussakt der Kur, ein guter Hammer mittlerer Größe zu
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