Roman unserer Kindheit
Brustbild, einen großen Teil der Kinderzimmerdecke in Beschlag genommen und beginnt dem Älteren Bruder die Funktion der seltsamen Mundwerkzeuge zu erklären. Obwohl er ins Detail geht, bleibt die Erläuterung, darauf legt der Herr Professor den allergrößten Wert, auch für einen jugendlichen Laien gut verständlich.
Schade, sehr schade, dass unserem großen Bruder ausgerechnet jetzt das Kerzenlicht der Einsicht von der Druckwelle einer Ohnmacht ausgeblasen wird. Die Mutter, die seinen Brüdern eben ihre Haushaltsschere reichen wollte, damit einer von ihnen die Paketschnur zerschneidet, spürt es sofort. Mit zwei Schritten ist sie an der Kinderzimmertür. Die Schere, ein Qualitätsprodukt, das ein stilisiertes Zwillingspärchen als Markenzeichen trägt, ragt ihr wie ein Hausfrauendolch aus der geballten Rechten. Gäbe es dadrinnen jetzt einen Wurm, der es wagen würde, sein Haupt gegen ihren Ältesten zu erheben, er könnte noch so groß sein, er könnte einen gezackten Rückenkamm zwischen den Bettenwinden und lange Klauen auf den Dielen spreizen, er könnte sogar giftiges Feuer über die gespaltene Zunge speien, er müsste ihre mütterliche Waffe dennoch ernstlich fürchten.
Regentag
Der Regen tut allen gut. Und ein kühl abgewogener Zufall hat es gefügt, dass heute Vormittag, dass mit nur einem Tag Verspätung die noch fehlenden, die heißersehnten Einklebebilder per Briefträger gekommen sind. Sie füllten zwei gepolsterte Kuverts, gerade so dick, dass sie nicht mehr durch den Briefkastenschlitz passten und Wischmann-Waschmann an der Wohnungstür klingeln musste. Natürlich wollte er die Sendung nicht bloß übergeben, sondern zugleich herausbekommen, was die Umschläge verbargen. Er fragte die Mutter mit einem plumpen Scherz, ob sie sich die Suppennudeln neuerdings direkt ab Fabrik bestelle. Damit war klar, dass er den Absender gelesen hatte, und der Mutter genügte das, um ihm eine schnippische Antwort aufzubrennen, die nicht das Geringste preisgab, ihn aber mit einer quälend vagen Anspielung auf sensationelle, im Fernsehen angepriesene Produkte dieser bislang nur für ihre Teigwaren bekannten Firma erst recht gierig auf das Ungewusste machen musste. So schnell finden an dieser Wohnungstür des erbsengrünen Blocks Geheimnis und Gerechtigkeit unter dem Mäntelchen der Grausamkeit zusammen.
Wischmann geschieht es recht. Schon beim frühmorgendlichen Sortieren im Postamt am Elsternhorst liest er nicht nur die Absender, sondern nimmt sich auch die Zeit, sämtliche Postkarten zu studieren. Schwer lesbare Handschriften werden so lüstern entziffert, als diente eine krudeKlaue ausnahmslos dazu, eine heikle Mitteilung zu tarnen. Dieser Werner Wischmann soll niemals erfahren, warum die Witzigen Zwillinge an zwei aufeinanderfolgenden Tagen Sendungen von Deutschlands größtem Nudelwerk bekommen haben. Bereits im nächsten Winter, drei Tage vor Heiligabend, wird ihm auf dem Personal-Klo des kleinen Postamts ein schmierig weißes Klümpchen aus Fett und Eiweiß, kleiner als ein Sesamkorn, ein Herzkranzgefäß verschließen. Ein aufmerksamer älterer Kollege wird sein Stöhnen hören, wird mit einem Schraubenzieher die verriegelte Toilettentür aufbrechen und neben dem nackten Hintern des vom Porzellan Gekippten eine Ansichtskarte aus New York entdecken. Sie ist an die Mutter des Ami-Michi adressiert. Bis Doktor Junghanns eintrifft, bleibt dann auch diesem Postler genügend Zeit, den in einzelnen Großbuchstaben säuberlich aufgemalten Text zu begrübeln. Drei Sätze sind es bloß. Aber obwohl Wischmanns Kollege zwei Sommer als baumwollpflückender Kriegsgefangener in den USA verbracht hat, wird er nicht einmal ungefähr kapieren, was da, schmeichelnd und dankend, in einem hübschen, gar nicht soldatisch groben Amerikanisch, ja nahezu poetisch über die Qualitäten der Adressatin angedeutet wird.
Im gestrigen Paket war das großartige Sammelbuch verborgen. Dass das Aufschneiden der Paketschnur erst einmal unterblieb, weil der Ältere Bruder, fiebrig ratternd, von Würmern und Äpfeln und einem Hammer phantasierte und die Mutter, die Schere in der Hand, zu Frau Böhm hinüberrannte, erweist sich heute als die angemessene Verzögerung. Gestern wollte die Mutter gleich nach einem Krankenwagen telefonieren, sah aber beim Durchqueren des Hausflurs die große dunkelblaue Limousine vor dem Eingang parken.Doktor Junghanns war so dicht herangefahren, dass das Chrom des Stoßfängers fast das Glas der Tür touchierte.
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