Roman unserer Kindheit
Schümer auf einem niedrigen Drehstuhl hinter der schmalen neuen Kasse. Und er freut sich, dass nun auch diejenigen zu ihm hereinfinden, die eine Drogerie bislang für einen unangenehm feinen Ort, für ähnlich einschüchternd gehalten haben wie eine Apotheke oder gar eine Parfümerie. Diese hemmende Schwelle scheint restlos weggebrochen. Und noch etwas Besseres ist hinzugekommen. Der Umstand, dass er inzwischen alleinlebender Witwer ist, hat ein wichtiges Geschäftsgefälle, den geschlechtlichen Neigungswinkel hinein in seinen Laden, eklatant vergrößert. Ohne die etwas spröde Evelyn ist er den Frauen der Siedlung lieber, das hat er bereits, als ihm, noch über das alte Thekenholz hinweg, mit den üblichen Floskeln das obligatorische Beileid ausgesprochen wurde, an einem signifikanten Kitzeln in den Ohren spüren dürfen. Auf Weiber glaubt sich Schümer zu verstehen. Schon der kleine Erich hat an sich bemerkt, dass er instinktiv wusste, welche Worte seine Mutter und seine Tanten von ihm hören und welche Mienen sie an ihm sehenwollten. Und später, als großer Junge, wie er sich den ersten rötlich blonden Flaum von der Oberlippe schabte und frühreif endgültig begriffen hatte, dass ihn die Weichheit und die Tiefe des weiblichen Körpers zu rein gar nichts inspirierten, begann er, dieses natürliche Vermögen ganz trocken und vernunftgemäß als Kapital zu nutzen.
Der Mann ohne Gesicht hatte ihn ertappt. Als er die neue, vollverglaste Tür aufzog, ließ Schümer ein Heft in das schmale Fach unter der Registrierkasse gleiten. Dann ging sein Blick zum Kunden. Das Lächeln des Drogisten, das in all seiner Beflissenheit etwas bubenhaft Frisches konservierte, war dem Verstehen des Geschauten wie immer einen flotten Schritt voraus. In der Regel erwies sich dies als günstig. Jetzt war es allerdings sein Pech. Statt jener Dauerwellen, die beide Siedlungsfriseure ähnlich helmartig zustande brachten, sah er die ungut hohe Stirn eines ihm unbekannten Mannes. Die Linie des Haaransatzes verlief schief, links hatte sie irgendein höhnischer Umstand bis an den höchsten Punkt des Schädeldachs hinaufgeschoben. Dahinter war das Haar jedoch just derart nussig braun und kraus verwirbelt, wie Schümer es bei Geschlechtsgenossen über alles schätzte. Die Augen, die er unter solchen Haaren am liebsten verhohlen und jugendlich halbwissend glitzern sah, fixierten ihn zu seinem nicht geringen Erschrecken über den Saum einer medizinisch weißen Maske. Für ein Momentchen der Verstörung entgleiste dem Drogisten die Miene, und seine Rechte fuhr in den Spalt unter der Kasse. Die Fingerspitzen tasteten über das Magazin. In unsinniger Sorge war er sich plötzlich nicht mehr sicher, ob das Heft so akkurat und stabil, wie er es sonst machte, mit einem starken Gummiband in einem Umschlag der Zeitschrift «Der Photofreund» eingespannt worden war.
Die dänischen Magazine werden ihm schon eine schöne lange Weile von Erwin Lutscher besorgt. Gleich ihm ist Lutscher den Bund der Ehe aus kalten Gründen eingegangen. Seine Gattin, die einst als junge Witwe zwei kleine Buben, inzwischen hübsche, langgliedrige Bengel, in die Ehe eingebracht hat, hegt weiterhin den Glauben, der schmucke Erwin wäre ihr regulär ins Netz gegangen. Auch mit dem Laden, den das Paar mit geliehenem Geld eröffnet hatte, lief und läuft es prima. Vor allem der Verkauf der Großgeräte bringt ein schönes Geld. In der Werkstatt beschäftigen die Lutschers inzwischen einen älteren Gesellen, der ein Händchen für alles Stromdurchflossene vom Heizkissen bis zur Waschmaschine hat und der sich fast so gut wie sein Chef im Röhrenmysterium der Fernseher zu helfen weiß. Dazu gibt es nun schon den zweiten Lehrling, um dessen Rundum-Ausbildung sich Lutscher – seine Frau sieht es nicht ohne Stolz – erneut vorbildlich sorgt.
Natürlich ist es eine Ehrensache, dass die Einzelhändler der Neuen Siedlung wechselseitig beieinander kaufen. Das erste Mal war Schümer wegen eines neuen Radios bei Lutscher im Geschäft gewesen. Aber erst, als nach Waschmaschine und Kühlschrank die erste Fernsehtruhe anstand, als Evelyn partout das größte und nobelste Elektromöbel haben wollte, waren Erich Schümer und Erwin Lutscher lang genug ins Gespräch geraten. Schulter an Schulter, Ellenbogen gegen Ellenbogen, studierten die Männer an einem Samstagmittag den Lieferkatalog des Elektrogroßhandels und parallel dazu die einschlägigen Herstellerprospekte. Lutscher fachsimpelte locker,
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