Roman unserer Kindheit
auch alles Folgende wird genau so kommen, wie er es voraussieht. Wieder zu Hause, in der Parterre-Eckwohnung des grünen Blocks, werden die Zwillinge das exquisite Stück an der Mutter vorbei ins Kinderzimmer schmuggeln. Erst wenn es dort am richtigen Platz prunkt, darf sie es sehen und gebührend bewundern. Auf dem Regal über dem Bett unseres großen Bruders haben die beiden ihre Kollektion wilder Plastik-Tiere aufgebaut. Inmitten der elfenbeinfarbenen Elefanten, umringt von den ein- und zweihöckrigen Kamelen, hinter dem einsamen blauen Nashorn, das schreitend, Fußvor Fuß, erstarrt ist, umlagert von Tiger, Löwe, Löwin, gegossen aus dem gleichen gelb abgetönten Kunststoff, neben dem leider fleckenlosen Leoparden, wird das hinzugekommene Tier der Augenfang der Sammlung sein. Denn einzig ihm, dem neuen und längst überfälligen, dem heißersehnten furchtbaren Räuber und Zerreißer, hat der große unbekannte Plastikschöpfer eine echte, den Betrachter herausfordernde Pose zugestanden. Das neue Tier heischt mehr als nur den üblichen naturgegebenen Respekt. Der Wundertütenfund steht auf den Hinterbeinen, den mächtigen Oberkörper leicht zurückgelehnt, fast wie ein Boxer, der einem Schlag, nach hinten pendelnd, ausgewichen ist. Die schulterhoch erhobenen Pranken versprechen einen blitzartigen Hieb oder eine knochenbrechend innige Umarmung. Und wer die Kuppe des kleinen Fingers in das aufgerissene Maul führt, kann fühlen, wie erstaunlich spitz die Kunststoffzähnlein dieses gewaltig großen Bären sind.
Regentag
Der Mann ohne Gesicht hätte es allen prophezeien können. Aber gestern hat er sowohl beim Bäcker als auch im Milchgeschäft und dann sogar in der behäbig vorwärtsruckenden Schlange an der Kasse von Lebensmittel-Vetterle, wo Kundin auf Kundin über die unerträglich schwüle Hitze klagte, sein Wissen für sich behalten. Erst auf dem Rückweg, als er, ohne rechten Einkaufsgrund, noch bei Horst Geistmann gelandet war, verriet er, dass es entgegen der Vorhersage im Radio am Wochenende regnen werde. Der Tabakwarenhändler hatte ihn eingeladen, am Samstagnachmittag unten auf dem Spielplatzgelände bei den Tischtennisplatten vorbeizuschauen, worauf der Mann ohne Gesicht ihm mit Bedauern eröffnete, die gewiss stets sehenswerte Paarung Geistmann gegen Schümer müsse morgen ins Wasser fallen. Dies sei so sicher wie das Amen in der Kirche. Was Wetterumschwünge angehe, könne er sich auf die Nase, die er nicht mehr habe, absolut verlassen. Wenn sie ihn derart jucke wie bereits den ganzen Vormittag, würde es binnen vierundzwanzig Stunden tüchtig schütten.
Heute ist es nicht ganz so schlimm gekommen. Zwar schmetterte bereits in aller Frühe ein wuchtiges Gewitter mit starken Böen eine Menge Wasser gegen den Rosenhang und auf die Dachziegel der Siedlung. Doch dann flaute der Wind schnell wieder ab. Der Regen machte sich dünn und dünner. Und jetzt, in einem letzten, fast tropisch feinen Sprühen,spürt man bereits wieder die Kraft der Sonne durch die wie Weißblech schimmernden Wolken dringen. Der Mann ohne Gesicht ist in seinem Kapuzenponcho losgegangen. Aber schon auf Höhe des türkisen Blocks wird ihm zu warm. Er klemmt sich die Kutte aufgerollt unter den Arm, und bald fühlt er sich auf eine angenehm laue Art durchnässt, der Mull klebt wie ein dünnes Fell auf seinen Narben. Er spürt die Spannung des Stoffs mit dem kleinen Knubbel, dem Knorpelrest, der ihm unter der empfindungslosen Haut geblieben ist. Das bohnengroße Stückchen ist übertrieben druckempfindlich und hat, seit es mit ihm den Wald verlassen hat, noch an Feinfühligkeit gewonnen. Bei Nacht muss er inzwischen das Verbandsviereck abnehmen, weil ihm dessen federleichtes Gewebe unangenehm auf dem Knorpel lastet. Längst hat er das Restchen seiner Nase im Verdacht, ihm auch die hochverlässlichen Wettervorhersagen des imaginär gewordenen Ganzen zu suggerieren.
Unten auf den Wiesen des Spielplatzes ist erst einmal kein Mensch zu sehen. Der Rasen dampft, als habe der Regen nach und nach die Glut, die vom Sonnenfeuer der letzten Tage im Erdreich verblieben ist, gelöscht. Im größeren Sandkasten steht ein von braunem Schaum gekrönter Teich. Der Mann ohne Gesicht steuert die Tischtennisplatten an, und auf dem Bänkchen, das die Kinder die Pingpong-Bank nennen, sieht er Geistmann und Schümer sitzen. Die beiden haben ihre aufgespannten Schirme so hoch in die elastischen grünen Triebe eines Holunderbaums geklemmt, dass die
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