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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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Schirmstöcke über ihren Köpfen schweben. Geistmann hat ihn entdeckt, ruft ihm seinen Namen entgegen, und Schümer hebt den roten Tischtennisschläger zum Gruß. Schon rutschen die beiden Sportfreunde auseinander, um ihm ein trockenesPlätzchen zwischen ihren wochenendgemäß kurzbehosten Schenkeln anbieten zu können.
    Der Mann ohne Gesicht kennt Schümer. Bei seiner zweiten Einkaufsrunde hatte er beschlossen, es gnadenlos gründlich anzupacken, und ließ kein einziges der Geschäfte des Kreuztöterweges aus. Sogar die Sparkasse suchte er auf, um sich einen Hunderter kleinmachen zu lassen. Nachdem dann bei Elektro-Lutscher Batterien für seine Taschenlampe erstanden worden waren, sah er, dass er seinen Anblick bloß noch in die Drogerie zu tragen hatte. Dies wurde unerwartet harte Arbeit. Eintretend zwang ihn irgendetwas, vielleicht ein Zusammenklang der Farben, sich jäh und schmerzhaft heftig zu entsinnen, wie Drogerien früher, vor seinem Krieg, gerochen hatten. Das alte, einst unspaltbar dicht gewesene Duften geisterte ihm von der Stirn nach hinten in den Kopf. Dort wallte kurz die Frische von Kölnisch Wasser auf, abrupt gefolgt von der Veilchensüße einer ganz bestimmten Seife, die er bei seinem Seelenfrieden nie wieder mit irgendetwas oder irgendjemandem in Verbindung bringen wollte. Um weitere Emanationen im Keime zu ersticken, nagte er an der Innenseite seiner Unterlippe, so lange und so bissig, bis genug Blut kam. Er wusste, hierauf war Verlass, der Blutgeschmack hatte ihm mehr als einmal gegen das Anwehen des Vergangenen geholfen. Im Laden waren keine weiteren Kunden. Der Drogist saß an der Kasse, den Kopf über ein Heft gebeugt.
    Im zurückliegenden Frühjahr hatte Erich Schümer den tragischen Tod seiner Frau zum Anlass genommen, die Geschäftsräume radikal umzugestalten. Die Wand zum Lager wurde Ziegel für Ziegel abgetragen, um Platz zu schaffen. Drei Reihen Regale stehen nun frei, sind beidseitig bestückbarund kundenfreundlich niedrig. Seitdem kann man fast wie in einem Supermarkt umhergehen und eigenhändig auf das komplette Sortiment zugreifen. Für Einkaufswagen, die wenden und einander überholen müssen, erwiesen sich die Durchgänge allerdings als zu schmal. Aber auch so, mit den hübschen Henkelkörbchen aus Edelstahl, ist die Modernisierung hervorragend angenommen worden. Die Kundinnen kaufen eindeutig mehr als früher. Selbst diejenigen, die ehedem eingangs ausgiebig mit Schümer oder seiner Frau geplaudert haben, die weiterhin mit kontaktfreudig erhobenem Kinn in den Laden kommen, lässt Schümer jetzt erst einmal allein. Er dreht sich einfach an ein Wandregal, tippt mit dem scharf gespitzten Tintenblei auf die eine oder andere Packung und murmelt vor sich hin, als zähle er etwas ab. So kann er sicher sein, dass die nur beiläufig Begrüßten, auf sich gestellt, schon den einen oder anderen Artikel ins Körbchen legen werden, der nicht auf ihrem Einkaufszettel steht. An der Kasse ist dann immer noch Gelegenheit, die Schwatzsucht, ähnlich wie früher und doch ökonomisch vorteilhafter, mit einem abschließenden Plausch zu stillen.
    Die alte Ladentheke, vor zehn Jahren maßgerecht geschreinert, hat Schümer hinten im Hof zerlegt, zersägt und dann im Winter bis auf den letzten Span verheizt. Das reute ihn kein bisschen. Das weite, mit Eiche furnierte Feld, die traditionelle Gleitbahn der Waren hin zum Kunden, fehlt ihm ebenso wenig wie die deckenhohen Holzregale des Lagerraums und die Leiter, die sich, auf Messingrollen schnurrend, daran vorüberschieben ließ. Nach Meinung des Drogisten soll, wenn irgend möglich, stets die Gegenwart regieren. Allenfalls sehnt er sich in schwächeren Momenten ein klein wenig nach dem einstigen Durchgang, nach der Passage hinein in den früherenVerkaufsraum. Der dicke, braune Vorhang war das beste Stück des alten Ladens. Selbst seiner Evelyn, die ihre ganze Ehe lang ein zuverlässig blindes Huhn abgab, ist einmal fast erleuchtungsartig aufgefallen, wie theatralisch, ja zirzensisch er den Türersatz lüftete und durchschritt. Der Gegendruck der schweren, samtigen Vorhangbahnen ist immer noch in seinen Händen. Und auch der Nacken weiß in einer separaten Nostalgie, wie der gewichtige Stoff, über den weißen Kittel schabend, hinter ihm zurück in die Senkrechte zu stürzen pflegte.
    Das wird, das soll nie wiederkommen. Die plüschig altmodischen Wonnen haben endgültig helleren Freuden Platz gemacht. Bescheiden wie sein eigener Angestellter sitzt

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