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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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erzählen. Von den Zwillingen, denen er alles, vom ersten bis zum letzten eingeklebten Bild, zweimal vorgelesen hat, sind die Freunde bereits mit den geheimnisvollen Namen, mit Speer und Fell, mit Blut und Tiergebrüll, so vage, wie es sein muss, so ungefähr, dass kein Körnchen und kein Tröpfchen des Wesentlichen preisgegeben wurde, auf das Geschehen eingestimmt. Noch an der Gartenpforte, als der Ami-Michi ein kleines Stück Papier vom Boden aufhob, um den ölverschmierten Schlüssel wieder blank zu wischen, sagte Sybille, wie sehr auch sie auf die Geschichte von den Bärentötern, auf Eis und Schnee und Tod gespannt sei. Aber dann sind die Freunde über die Leiter auf das Dach gestiegen, und alle, sogar die Zwillinge, nahmen ihre Wundertüten mit hinauf, obwohl Sybille vorher beim Verteilen zur Bedingung für die Annahme gemacht hatte, dass jede Tüte unter den Augen der anderen aufgerissen werden müsse.
    Schnöde allein gelassen, fühlt sich unser großer Bruder berechtigt, gegen diese Abmachung zu verstoßen. Er wirft die Tüte einmal, zweimal, dreimal in die Höhe, beim letzten Mal schleudert er sie so hoch, dass sie die anderen eigentlich sehen müssten. Aber die albern auf dem Dach herum, haben inzwischen einer nach dem anderen die Füße an den Po gezogen, weil der Wolfskopf, dem nun vollends schwindlig ist, Gefahr läuft, über die nächstliegenden nackten Beine zu stolpern. Der Ältere Bruder packt den Klebefalz der Wundertüteund reißt sie von oben nach unten mit einem Ruck entzwei. Es ist das erste Mal in seinem Leben, dass er das feste Papier so rigoros zerfetzt. Bei allen anderen Tüten, bei den zahllosen anderen, die ihm die Mutter in den vielen, vielen Sommern, in denen er ein kleiner Junge war, einfach so von Tabak-Geistmann brachte, wurde die obere Kante stets mit der Schere abgeschnitten, ganz ordentlich entlang der gestrichelten Linie, in deren endlosem Rundlauf fünfmal eine kleine Schere abgebildet ist. Stets hatte er die geleerte Tüte danach auf dem Tisch glatt gestrichen und ihr Bild studiert, so wie er es, von unklarer Verlegenheit erfüllt, erst neulich Sybilles kleine Schwester auf dem Küchentisch der Böhms hat machen sehen.
    Er hört sich mit den Zähnen knirschen, und fast im selben Moment erkennt er, dass nicht nur der Ärger, sondern vielmehr die Scham es ist, die ihm die Kiefer zusammenpresst. Jetzt ist ihm klar, warum Sybille für sich selbst keine sechste Wundertüte erworben hat, obwohl sie doch noch Geld genug zur Verfügung hatte. Natürlich fühlt sie sich zu groß dafür. Nichts von dem, was sich in den Tüten finden lässt, könnte sie noch entzücken, sogar einen der Ringe mit den bunten Steinen, die allen kleineren Mädchen im Hof gefallen, würde sie sich nicht mehr an den Finger stecken, sondern gleich an ihre Schwester weiterreichen. Nur wenn er seine Tüte sogleich mit einem Lächeln, mit lässig souveräner Geste an die Zwillinge abgegeben hätte, die sich eine teilen mussten, wäre ihm die nun begriffene Selbsterniedrigung erspart geblieben. Mit beiden Händen fegt er sich den Puffreis, der allen Wundertüten als Basisfüllung beigegeben ist, aus dem Schoß.
    Eigentlich will er gar nicht wissen, was noch in seiner Tüte steckte. Aber als er ihr Papier zusammenknäult und an dasFensterglas der Laube schleudert, pikst ihn etwas an der Hüfte. Dort ist es also hingerutscht. Mit spitzen Fingern zieht er es hervor. Oben vom Dach hört er Sybille quieken. Der wankende Wolfskopf ist mit der Sohlenspitze seiner rechten an der verbogenen Schnalle seiner linken Sandale hängen geblieben, hat sich so selbst zu Fall gebracht und ist Sybille mit dem Lederhosenhintern in den Schoß geplumpst. Die anderen kichern sich fast kaputt. Den Zwillingen fällt dazu natürlich der Witz ein, in dem ein Elefant mit einem Nashorn tanzt, aber sie kommen mit dem Erzählen nicht über einen ersten und einen halben zweiten Stottersatz hinaus, weil sie mit dem Lachen noch nicht ganz fertig waren und nun zur Strafe extra lang zu Ende gicksen müssen. Unten im Schatten des Schrebergartenhäuschens weiß unser großer Bruder, dass sich die beiden mächtig freuen werden, wenn gleich in hohem Bogen nach oben geflogen kommt, was in seiner Wundertüte war. Der Wolfskopf, der nicht nur ein guter Werfer, sondern auch ein exzellenter Fänger ist, wird das Emporgeschmissene trotz seines Schwindlig-Seins sicher in den großen Händen bergen.
    Der Ältere Bruder hat jetzt schon recht. Nicht bloß sein Wurf,

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