Roman unserer Kindheit
schließlich hinunter in die legendären Keller. Der Brauerei-Beauftragte erzählte, der Bierkeller sei nachweislich der älteste der Stadt, vielleicht sogar der älteste des Landes. Im Lauf von mehreren Jahrhunderten hätten die Eigentümer mit einem Maulwurfseifer, mit einer Wühllust, die wie eine Krankheit von einer Generation auf die nächste übersprang, Gänge und Kammern in den Kies- und Lehmboden der westlichen Anhöhe gegraben. Nach einem Plan sei in den Aktenbeständen der Mohrenbräu AG und auch im Stadtarchiv vergeblich geforscht worden. Angeblich habe nicht einmal die Wehrmacht, die die Gewölbe in den letzten Kriegsjahren als Munitions- und Sprengstofflager nutzte, einen halbwegs vollständigen Aufriss des Labyrinths besessen.
In den Kuhlen ausgetretener Sandsteinstufen stiegen sie hintereinander in die Tiefe. Sie staunten über die Frische und den noch immer hopfenherben Duft der Luft. Ein erster großer, stollenähnlicher Raum bot einen umgestürzten Stapel leerer Munitionskisten und anderen Kriegskram, dersich trotz Rost und Spinnwebbärten merkwürdig neumodisch auf dem bucklig unregelmäßigen Boden ausnahm. Drei Gasmasken hingen über einem an die Wand gerückten Tisch, das eigene Gewicht hatte ihnen die runzeligen Gummibänder schnürsenkeldünn gezogen. Der Sparkassen-Mann brachte die starren Larven, die runden Blechschnuten unter den staubblinden Augenscheiben nacheinander ins Schaukeln und meinte, das sehe aus, als hätten sich drei arme Veteranen aus Verzweiflung darüber, dass sie hier unten nutzlos ausharren müssten, gemeinsam aufgehängt. Er lachte über seinen Scherz, und es klang wie im Kino, wie aus einem Film, in dem schon mit dem nächsten Schritt ins Finstere das rächend Schlimme über einen dreisten Eindringling und dessen frevelhaftes Gelächter hereinbricht.
Unter einer tunnelartig rund gemauerten Decke stapften sie weiter in den Berg hinein. Natürlich war ihnen klar, dass diese Räumlichkeiten im Falle einer Neuverpachtung keine Rolle spielen würden. Allein schon aus Sicherheitserwägungen musste der Zutritt verboten bleiben. Dennoch nahm die Emsigkeit, mit der sie ihre Lampen schwenkten, stetig zu. Gerade die völlige Leere des ganz leicht gekrümmten Gangs schien zu versprechen, es gebe bald etwas Besonderes zu entdecken. Sie sprachen nicht darüber, aber sie atmeten ähnlich hechelnd, es war, als hätten sie vom gleichen imaginären Blut geleckt. Und jeder, das spürten die anderen beiden, tat sich dann ähnlich schwer, seine Enttäuschung zu verbergen, als sie ihren Erkundungsgang vor einer Gittertür, hinter der es vielversprechend enger und feuchter wurde, abrupt beenden mussten, weil sich zu deren Schloss auch nach zweimaligem Durchprobieren kein Schlüssel am Brauerei-Bund fand.
Das Angebot, das man ihm oben, ins Licht der großenGaststube zurückgekehrt, ohne Umschweif machte, war verführerisch. Offenbar hatten sich Verpächter und Kreditgeber im Vorfeld der Besichtigung abgesprochen und alles geschickt auf seine Neigungen und finanziellen Möglichkeiten zugeschnitten. Er bat sich eine Woche Bedenkzeit aus. Am Abend vor dem Tag, an dem er sich entscheiden musste, knatterte er dann mit seinem Motorroller erneut den Hang hinauf. Dort war es eben noch hell genug, um sich das Gelände anzusehen. Zweimal lief er im Uhrzeigersinn um das große Grundstück, einmal ganz langsam, dann noch einmal zügig, beide Male, ohne dass ihm auch nur der Hauch einer Erleuchtung kam. Er rauchte neben seinem Roller eine Zigarette, er saß, bereit zur Rückfahrt, schon auf dessen Sitzbank, doch dann zog er sich den Helm wieder vom Kopf. Er ging ein drittes Mal um das vom Licht der untergehenden Sonne verkupferte Gebäude und kletterte ganz hinten, wo ihn niemand von der Straße aus erspähen konnte, wo ein völlig zugewucherter, offenbar nie benutzter Kiesweg im Gebüsch verschwand, über die Mauer.
Wegen der Trockenheit der letzten Wochen hatten die alten Bäume des Biergartens schon viel vorzeitig braun gewordenes Laub und auch einen Teil der unreifen Kastanien abgeworfen. Seine Schritte drückten die weichstacheligen Kugeln tief in die federnde Humusschicht, zu der die Blätter der vorausgegangenen fürsorgelosen Jahre vermodert waren. Die Sonne klebte als rote Beule auf dem tonnenförmigen Dach der Kegelbahn, malte orange und violette Schlieren in die Scheiben des Hauptgebäudes. Gern hätte er das Ganze schön gefunden. Leider war es zu still, um schön zu sein. Wahrscheinlich
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