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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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hätte er es hinbekommen, sich Murmeln, Lachen, Gläserklirren vorzustellen und dies als etwas gut Gewesenes,weiterhin Wünschenswertes in die Zukunft hineinzuphantasieren, wenn nur ein einziger Abendvogel den Startschrei gegeben hätte. Aber anscheinend legte keines der hiesigen Amselmännchen Wert auf das prächtige Revier. Sogar die trockenen Blätter unter seinen Sohlen wollten nicht richtig rascheln. Er fühlte sich nicht wohl, ihm wurde mit jedem Schritt ein wenig flauer. Zugleich kam er sich irgendwie geschrumpft vor, was zweifellos mit den Kastanien zusammenhing, jedoch nicht nur an ihrer schieren Höhe lag, sondern mehr mit dem Lungern und Lauern ihrer Monumentalität zu tun hatte. Bevor er sich über sein Unbehagen klarer werden konnte, sackte die Sonnenbeule, wie mit einem Ruck, tiefer in die Teerpappe des Kegelbahndachs, und er sah die Kinder.
    Womöglich war er nur weniger geblendet oder hatte, im Bogen näher kommend, den Blickwinkel derart verändert, dass ihre Schar, die vorher unsichtbar für ihn gewesen war, nun überdeutlich in Erscheinung trat. Er zählte wie im Zwang von rechts nach links und dann noch einmal in die Gegenrichtung. Es waren und blieben acht. Verschieden groß. Sie hielten sich in einer Reihe an den Händen. Mit einer dünnflüssigen, in schmalen Bahnen abgesickerten roten Farbe hatte man sie an die fensterlose Schmalseite der Kegelbahn gemalt. Die Wand war hierfür eben breit genug. Die Farbe glänzte feucht, als wäre alles eben erst geschehen. Offenbar hatte ein neunter Bengel oder eine neunte Göre den Pinsel rund um die Stillstehenden geführt. Dort, wo die Arme in stumpfem Winkel zusammentrafen, sah es aus, als gingen Schläuche ineinander über, als pumpten sie ein gemeinsam genutztes Blut. Das Ganze war wohl ein Witz, bestimmt bloß einem Augenblickseinfall, einer Gelegenheit entsprungen.Und doch traf ihn das primitive Bild ins Mark, elektrisierte irgendeinen Aberglauben wie einen Nerv. Er drehte um. Übertrieben festen Schritts begann er die Gartenmauer anzusteuern. Jetzt raschelten die Blätter lauter, es war ein tückisch spitzes Geräusch, fast ein Zischeln oder Flüstern. Er rannte lieber los.
    Erst als er mit zerrissener Hose oben auf der Mauer hing, ein Bein schon auf die andere Seite geschwenkt, wandte er sich noch einmal um. Die Sonne war weg, die Wand der Kegelbahn gleichmäßig dunkelgrau wie ein perfekt lackiertes Brett. Das Bild hatte sich selbst gelöscht. Stattdessen ließ sich endlich etwas hören. Es wummerte, es grollte und ächzte so hölzern zu ihm her, als rollte im Inneren des Baus eine viel zu große Kugel kreuz und quer über die von dieser Last schwer geschundenen Bahnen.

Sonnentag
    Der Ältere Bruder schafft es nicht nach oben. Es ist ein Jammer. Die Freunde können sein klägliches Scheitern nicht begreifen. Ohne die steife Schiene müsste der Aufstieg auf das Schreberhäuschendach doch viel leichter zu bewältigen sein. Aber ganz rasch, den gesunden Fuß erst auf der zweiten Sprosse, hat er aufgegeben. Jetzt sitzt er im Gras, tastet an seinem Verband herum und macht ein komisch verkniffenes Gesicht. Der Ami-Michi, der sich mit allen Arten von Angst am besten auskennt, der manchmal losheult, ohne dass die anderen den kleinsten Grund erkennen können, sieht es überdeutlich: Der Ältere Bruder ringt vor seinen Freunden mit den Tränen. Und plötzlich wird ihm klar, dass er ihn noch niemals hat weinen sehen. Sogar wenn dies das Richtige, das einzig Angemessene gewesen wäre, sind die Tränenlöchlein unseres großen Bruders wie verstopft gewesen.
    Zweimal war er dabei, wie der Ältere Bruder von einem Huhlenhäusler niedergeschlagen wurde. Das erste Mal war es im Hof geschehen, in einem Sommer, der ungeheuer weit zurücklag, denn die Zwillinge spielten damals noch Kuchenbacken. Zusammen mit Sybilles Schwester knieten sie vor dem Betonrand des Sandkastens, als einer der üblen Kerle aus dem türkisen Block schräg über die Wiese ankam und die Sandtörtchen der Kleinen in bösem Fleiß, also ohne ein einziges zu verschonen, platt trat. Natürlich hätte der Ältere Bruder besser nichts dagegen sagen sollen. Der Huhlenhäuslerwunderte sich zwar einen Blick lang über den Einspruch des Herbeigeeilten, verschwendete dann selber keine Zeit auf Worte. Stattdessen schwang er die leere Milchkanne, mit der er unterwegs war, in schönen großen Kreisen zweimal durch die Luft und ließ ihr Blech bei der dritten Umdrehung auf den Kopf unseres großen Bruders

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