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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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seinem Mund Gehörte und das, was sie in stiller Mühe selbst aus den Sprechblasen gesogen haben, auseinanderliegen. Bis an ihr Lebensende, ja bis in ihre Todesstunde, werden sie den Älteren Bruder bloß für einen begnadeten Ableser halten und nicht als trickreichen Erfinder erkennen.
    Die Wespe umkreist im Niedrigflug das Glas von Sybilles Schwester. Als Einzige hat die noch nichts getrunken, vielleicht weil zu hoch eingeschenkt ist. Sybille weiß, in solchenSachen ist die Kleine eigen und tut sofort beleidigt. Die trübe Flüssigkeit reicht fast bis an den Rand. Dem Insekt ist das natürlich recht. Es landet auf der Rundung. Zuerst wippt sein langer Hinterleib in die schaumige Oberfläche, dann dreht es sich geschickt, neigt den gefleckten Schädel, die größten Klauen seines Maulwerkzeugs berühren eine der süßen Blasen. Und es kracht: Es kracht ganz furchtbar. Es kracht, als wäre in der Küchenwelt der Böhms eine bislang unsichtbar gebliebene Eiterbeule aufgeplatzt. Das Krachen vereinigt ein Donnern und ein Klirren. Der Hieb kam ohne jede Vorwarnung, wie aus dem Nichts. Kurz ist das umgehauene Glas noch heil geblieben, aber schon hat es rollend den Tischrand erreicht und zerschellt am Boden. Auch die Gläser der Zwillinge waren am Wanken. Sybille hat sie mit vorschnellenden Händen festgehalten, dabei jedoch mit ihrem rechten Ellenbogen den Glaskrug umgestoßen. Der Saft schwappte dem Buch entgegen, er hätte dessen obere Kante erreicht, wäre es nicht von den Zwillingen vierhändig vom Tisch gerissen worden. Ganz langsam hebt Sybilles Schwester, unbeeindruckt von den Folgen ihres ersten Schlags, erneut das Händchen. Alle sehen, die Wespe lebt noch, ihr dreiteiliger Körper zuckt, als suchten Kopf, Brust und Hinterleib nach einem rettenden gemeinsamen Gedanken. Der erste Schlag hat nichts an ihr zerquetscht oder abgerissen. Da treibt der zweite, der ebenso präzise und harte Hieb des kleinen Mädchens dem Insekt das weiße Innere nach außen.
     
    Den Vater hat schier der Schlag getroffen. Zumindest behauptet er jetzt in einem halblauten Selbstgespräch von seinem eben erst gewesenen Ich, von seinem dummen Vorhin, dieses hätte um ein Haar ein Schlag ereilt. Er war, nichtsArges ahnend, bei Doktor Junghanns gewesen und wurde wie erwartet wegen des Messerschnitts eine weitere Woche krankgeschrieben. Die Wunde aus dem Affentanz ist gut verheilt. Der alte Arzt meinte allerdings, es sei riskant, die rosig zarte Narbe im Handteller schon wieder mit dem Griff der Kelle oder gar mit dem Stiel einer Schaufel zu belasten. Der Vater ging, die Hand bloß noch verpflastert, Richtung Tabak-Geistmann. Seit er tatenlos zu Hause sitzt, raucht er ab und zu am Küchentisch eine Filterzigarette, was er sonst nur in der Kneipe, bei Richtfesten oder bei Familienzusammenkünften tut. Er nennt sich selbst einen Geselligkeitspaffer und blickt voll Mitleid, aber auch mit einer Spur Verachtung auf die herab, die auf der Baustelle von frühmorgens bis zum Feierabend an den Glimmstängeln saugen müssen.
    Ein Dutzend Schritte vor dem Laden fiel ihm, wie aus heiterem Himmel in die Welt gerissen, diese verrückte Lücke auf. Die Häuserzeile, in der sich die Geschäfte des Kreuztöterweges aneinanderreihen, kennt er seit ihrem Einzug aus dem Effeff. Er kommt zwar seltener als seine Frau in diese Läden, aber doch oft genug, um ihr Nebeneinander sicher im Griff der Vorstellung zu haben. Der Vater, der gern spielt und wettet, hätte noch vor einem Viertelstündchen ohne Zögern einen Wochenlohn darauf gesetzt, dass er die zweigeschossigen Gebäude, samt ihren Eingängen und Schaufenstern, jederzeit fehler- und lückenlos aus dem Gedächtnis hintereinanderbringen könne. Dass zwei von ihnen nicht aneinanderstoßen, sondern einen Spalt offen lassen, hat er während der letzten Jahre bei keinem Vorübergehen, bei keinem Vorüberrollen mit dem Moped bemerkt.
    Es musste wohl erst einer speziell für ihn in dieser Unsinnslücke hocken. Jetzt, wo er in den Drosselgrund einbiegt,glaubt er noch immer, trotzig gegen die eigene Vernunft gestemmt, der Mann und sein Hund hätten seinetwegen auf dieser Decke Platz genommen. Das Schicksal, das sich gern als mieser Zufall tarnt, hat ihm erneut eins ausgewischt. Der Vater hatte sogar noch Glück bei diesem Streich, denn er musste nur im Vorübergehen und bloß über die Schulter eines Dritten auf das Corpus Delicti gucken. Als Puffer stand der Schwerversehrte aus dem hinteren Block dazwischen. Er hatte

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