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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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keinen Spaß verstehen, wenn sie ihm auf die Schliche käme. Todsicher würde sie dafür sorgen, dass man ihn zum Heimleiter zitierte, und dann gäbe es ernstlich Ärger, womöglich eine schriftliche Entlassungsdrohung, bloß weil er sich ungefragt gegriffen hat, was ewig und drei Tage in der Nische vorn im Herrenklo, an einen alten, komisch hochrädrigen Rollstuhl gelehnt, herumgestanden war.
    Der Mann ohne Gesicht holte gleich einen Lappen, ein Stückchen Sandpapier und Öl, um die beiden Stangen vomRost zu befreien und dort, wo sie verstellbar sind, zu schmieren. Den Armmulden, deren Polsterung zu feinen Rissen aufgesprungen war, rückte er mit Schuhfett aufs trockene Leder. Der Fehlharmoniker sah sich währenddessen in aller Ruhe den Tischplan an. Die Blöcke aus Karton erschienen ihm kein Fortschritt. Er riet seinem Kameraden erst einmal davon ab, auch Kirche, Polizei, Kino oder Post mit Kleber und bunter Pappe derart in die dritte Dimension zu heben. Wenn es zum Ernstfall komme, wenn sich der maßgebliche Ort ruckartig offenbare, würde ihnen die Überbewertung von Nebenkriegsschauplätzen, jedes Generalstabsgetue nur den Blick verstellen. Auch das Schrebergartenhäuschen müsse nicht eigens in den Tisch geschnitten werden. Warum solle es wichtiger als irgendwelche anderen Spiele sein, dass die Bande ihren lahmen Anführer gemeinsam auf die Teerpappe des Dachs hinaufgezogen habe.
    Als der Putzkram wieder in einem der Obstkistchen verstaut war, die im Flur den Schrank ersetzten, und der Mann ohne Gesicht mit frisch gewaschenen Händen aus dem Bad zurückkam, wurden ihm noch der Wiedereinberufungsbescheid und die zweite Postkarte vorgelegt, die am Folgetag den Ort des Dienstantritts kundgetan hatte. Natürlich gab es nicht den geringsten Zweifel, dass beide aus der Sammlung des Kommandanten stammten. Er fragte den Fehlharmoniker, ob er ihm eine der Karten überlassen würde. Der zögerte. Es fiel ihm sichtlich schwer, sich von einem der schönen Stücke zu trennen. Aber nach einem stillen Vergleichen, das sich nicht bloß den nackten Nixen, sondern genauso lang den Rückseiten der Karten hingab, entschied sich der Musiker, diejenige herzugeben, die er als erste erhalten hatte. Die zweite, auf deren Mitteilungsseite mit einemschlechten, vermutlich selbstgeschnitzten Stempel ein Bär mit den Proportionen eines Jungtiers, ein hübsches rotes Bärenkind, aufgedruckt war, lag ihm offenbar ein bisschen näher am Herzen.
    Juchhe! Juchhe! Kommandant Silber freut sich! Kommandant Silber freut sich mehr noch als seine alten Kameraden. Kommandant Silber freut sich inniger als die meisten seiner Zeitgenossen, die notgedrungen zur Freude irgendeinen äußeren Anlass brauchen. Kommandant Silber freut sich nämlich an sich selbst: Silber ist ein blitzsauberes Kerlchen! Sogar im Sommer, selbst in diesem August, dessen Hitze erneut nahezu jede Erinnerung gefährdet, vergisst der Kommandant so gut wie nie, dass er der Allerschönste, der Schönste weit und breit, womöglich gar der schönste Mann der Welt ist. Und wenn es, wie eben, doch sekundenkurz geschehen ist, falls das von der Hitze des Tages aufgeheizte Silber mit einem weißen Entladungsleuchten alles verblendet hat, muss halt der Taschenspiegel helfen. «Hoppla, da bin ich ja! Da sind wir wieder!», hat Kommandant Silber vorhin gesagt, als er den kleinen Spiegel vor das Gesicht hob und sich fast ohne Verzögerung daran freuen durfte, wie schön ihm sein silbriges Haar in die Stirn fällt. «Der kleine Blackout ist vorbei!», fügte er noch hinzu und tauschte ein langes Lächeln mit seinem Konterfei. Die beiden gleich schönen Kommandanten, die beide wissen, dass sie in Wirklichkeit ein und derselbe sind, schmunzelten nicht zum ersten Mal darüber, wie grundverkehrt das englische Wörtchen, die Feindvokabel «blackout» ist. In Wahrheit war die eben erlittene Absenz wie alle vorausgehenden Abwesenheiten genau das Gegenteil von Schwarz, in Wirklichkeit flammte es jäh weiß auf, und alles Bunte, Graue und Schwarze war zu Weiß gelöscht.
    Kommandant Silber sieht sich um. Er sitzt auf einem schmalen unbezogenen Bett, dessen Kopfteil aus angelaufenem Messing ihm, so hübsch die Stangen und die Knöpfe auch sind, ganz unbekannt vorkommt. Aber da seine Karten vor ihm auf der Matratze liegen, weil seine Sammlung nackter Nixen säuberlich, Postkarte neben Postkarte, auf dem alten, fleckigen Bezug zu fünf gleich langen Reihen angeordnet ist, gibt es überhaupt keinen Grund zu

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