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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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seinen schiefen Haaransatz tief zu diesem Lückennutzer hinabgeneigt und ließ sich etwas in eines seiner kleingeschmorten Ohren flüstern. Währenddessen musste der Vater mit einem langen Blick wiedererkennen, was ihm einmal mehr als nur Eigentum gewesen war. Das gab ihm einen schlimmen Stich. Er zwang sich zum Weitergehen, blieb aber schon bei Tabak-Geistmann wieder stehen, gaffte ins Schaufenster, als würden ihn die protzig goldfarbenen Tischfeuerzeuge oder die papageienbunt beklebten Zigarrenkistchen interessieren.
    Er musste nicht lange warten. Der Kerl im Spalt fing prompt zu spielen an. Ganz kurz dachte der Vater, der neue Nachbar ohne Gesicht hätte sich ein bestimmtes Lied gewünscht, aber der ging gleich mit den ersten Tönen in die andere Richtung weiter. Der Grünbebrillte konnte spielen, das hörte der Vater, der Vorbesitzer, der Enteignete, schon aus dem ersten Ziehen und Drücken, aus dem ersten Atmen des Instruments heraus. Wenn einer kein Gefühl für Rhythmus hat, wird er es mit noch so viel eingepaukter Technik vergeblich tarnen. Dem Mann da war es mit der Muttermilch gegeben worden. Genau das hatte der Vater früher von sich selbst gesagt. Immer ist er stolz darauf gewesen, dass er, der niemals Unterricht besuchen und Noten lernen durfte, sichjede Melodie nach zweimaligem Hören auf den Knöpfen des diatonischen Akkordeons zusammensuchen und sich eine Begleitung hinzuerfinden konnte, an der dann keinem das Selbstgemachte auffiel.
    Der Blinde zwischen den Häusern spielte keine Melodie. Er griff sogar absichtlich an jedem eingängigen Aufundab vorbei. Das war kein Lied und sollte keines werden. Die Konsequenz, die Raffinesse, mit denen der naheliegende Zusammenklang vermieden wurde, machte den Vater staunen. Lauter verrückt gewordene, eisig glatte Kugeln. Das Nacheinander wie das Miteinander voller Spott und Schmerz. Nie hatte er einen so etwas versuchen hören, er hatte nicht einmal gewusst, dass es dergleichen gab. War das vielleicht modern? Die Griffe saßen. Da gab es – Kälte hin, Eisigkeit her – nichts dran zu rütteln. So weit konnte nur einer gehen, der aus dem Können kam, so spielte einer, der mit strengem Fleiß unterließ, was ihm zuvor als Baukasten und Werkzeugkiste zu Diensten gewesen war.
    Wäre sein Instrument, wäre dieses Instrument noch bei ihm zu Hause unten rechts im Kleiderschrank gestanden, hätte er sich jetzt hingetraut, um mit diesem mitten im Sommer frostbesoffenen Kerl, mit diesem virtuosen Eskimo, ganz vorsichtig ein bisschen fachzusimpeln. Er war kein Drückeberger. Er hätte das Gespräch mit einer Bemerkung zur Mechanik angefangen. Im Bauch der noblen Quetsche kannte er sich aus. Er hatte sich früher nie gescheut, sie aufzuschrauben und ihre Zungen, ihr Holzwerk und die Filzbeläge vorsichtig mit den Fingerkuppen zu betasten. Er hätte sogar gewagt, einen kleineren Schaden selber zu beheben. Aber bis zu ihrem letzten gemeinsamen Tag war sein diatonisches Akkordeon frei von Defekt und ohne Wartungsbedarf geblieben.
    Zwei Jahre vor seiner Hochzeit hatte er das neuwertige Prachtstück sehr günstig von einem unglückseligen, durch die Gicht entmannten Musiker erworben. Als werdender Vater trug er das Instrument, das kurz sein ganzer Junggesellenstolz gewesen war und weder den kleinsten Kratzer noch eine andere abwertende Gebrauchsspur aufwies, ins größte Musikaliengeschäft der Stadt, um es zu verhökern. Fast das Doppelte des Ankaufspreises wurde ihm damals in die Hand gezählt. Die Hälfte des Geldes ging dann nur wenige Läden weiter für ein neues Radio über den Tisch. Seine schwangere Frau sah beidem versonnen lächelnd zu. Sie hatte den Verkauf nie ausdrücklich verlangt, bloß mehrmals beiläufig gemahnt, so ein Akkordeon sei doch gewiss zu laut für die feinen Ohren eines Säuglings.
    Seit er den Fehlharmoniker auf seinem einstigen Instrument improvisieren hörte, spürt der Vater, zu welch drückender Geschwulst der Grimm, den er gegen die Mutter seiner Söhne hegt, im Lauf der Jahre herangewachsen ist. Also hat er beschlossen, am helllichten Mittag für jedes seiner Kinder ein Bier zu trinken. Der Kreuzkrug am Eck hat wegen eines Trauerfalls geschlossen. Das ist dem Vater gar nicht unrecht, gern legt er noch ein paar hundert Schritte mehr zwischen sein Zuhause und die nun nötige Wirtshaustheke. Er läuft zum Elsternkrug hinunter, der, obwohl er die Polizei als Gegenüber hat, die beliebtere Kneipe der Neuen Siedlung ist. Dort lugt er über die

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