Roman unserer Kindheit
Gardine in den Schankraum und sieht, wie die Bedienung dem Taubstummen aus dem türkisen Block einen Teller Sülze und den Brotkorb hinstellt. Bis auf den Wellensittichzüchter ist die Wirtschaft leer, also zu leer und zu still, um sich in ihr von Bier zu Bier zu hangeln. Und schon ist er entschieden, nach Oberhausen in den Affentanzzu gehen. Der Fußmarsch unter den schattenspendenden Linden der Bärenkellerstraße soll seinem Zorn eine erste Abkühlung verschaffen.
Am Spielplatz nimmt er die Abkürzung vorbei an den Schrebergärten. Eine halbe Ewigkeit ist er hier nicht mehr entlanggekommen. Der Weg ist verwildert, Gras und Brennnesseln haben den Kies durchstoßen. Irgendwer hat eine dicke Kette zwischen zwei Pfosten gespannt. Das übertrieben große Schild mit der Aufschrift «Durchgang verboten/Eltern haften für ihre Kinder» hat grünen Schimmel angesetzt. Der Vater schert sich nicht um das Verbot. Er weiß, dass dieses letzte Stück über das Gelände der alten, der seit vielen Jahren geschlossenen Bärenkellerwirtschaft führt. Schon sieht er die ziegelrote, die hässlich rohe Mauer, die den einstigen Biergarten und seine riesigen Kastanien umschließt. Dadrin war er noch nie. Aber an das tonnenförmig gewölbte Dach des separaten Kegelbahngebäudes kann er sich nun ganz unsinnig genau erinnern. Während er im Gehen auf den Zehenspitzen wippt und schließlich sogar hochhüpft, um einen Blick in den Garten zu erhaschen, ist ihm wirklich, als sei er in einer früheren Zeit oft hierhergekommen und habe hinter den kapellenartig hohen Fenstern an Abenden, die rückstandslos versinken mussten, eine glänzend polierte schwarze Kugel auf das gebohnerte Holz geschlenzt.
Ich fliege unserem Vater, um ein wenig Abstand von seinem Unmut zu gewinnen, ein Stück voraus. Ich sehe, wie unten in Oberhausen der Wirt den Schlüsselbund aus seiner Hosentasche fischt und die Vordertür der Kneipe aufschließt. Drinnen werden als Erstes alle Fenster aufgestoßen, um noch einmal durchzulüften, die Stühle kommen von den Tischen,die Schanksperre unter der Theke wird entriegelt, und ein erster Liter Schaum zischt aus dem Keller herauf in den unter den Hahn gestellten Krug. Dann geht der Wirt zur Tür, die in den Hof führt, und holt herein, was Bäcker und Metzger angeliefert haben. Im Affentanz wird nicht gekocht, aber in einer Vitrine werden üppig belegte Semmeln auf hübsch geblümten Tellern feilgeboten.
Bald, Anfang September, feiert der Affenwirt sein zehnjähriges Jubiläum als Pächter. Seinem Vorgänger war nach einer bösen Messerstecherei mit mehreren Verletzten die Schanklizenz entzogen worden, und eine Zeitlang wurde gemunkelt, die Mohrenbräu AG, der das ganze Haus gehört, wolle die Traditionsgaststätte für längere Zeit, vielleicht für immer schließen. Als er sich trotz dieser Gerüchte um den Affentanz bewarb, hatte die Brauerei ihm überraschend angeboten, stattdessen die große alte Gartengaststätte oben am Rosenhang, den sogenannten Bärenkeller, neu aufzumachen. Daraufhin hatte er sich erst einmal die Umgebung angesehen. Die Neue Siedlung war damals noch kneipenfrei. Außer einem nur an den Sommerwochenenden betriebenen Ausschank in der Schrebergartenkolonie gab es keine Konkurrenz. Am Sonntag zogen die Radler, die Moped- und Rollerfahrer, die mit Familien vollgestopften Autos in schöner Dichte die lindengesäumte Allee hinauf. Wenn diese Ausflügler die ungewohnte Stille, die Grabesruhe der westlichen Wälder, so gut dergleichen ging, genossen hatten, waren viele von ihnen bestimmt nicht abgeneigt, auf dem Rückweg in einem schönen Gasthof, in einem lauschigen Biergarten einzukehren.
Also wurde ein Besichtigungstermin vereinbart. Die Brauerei hatte noch einen Mann von der Sparkasse hinzubestellt.In respektvollem Abstand traten sie nacheinander über die Eichenholzschwelle der torartigen Vordertür. Schweigend, aber beeindruckt nickend, gingen sie durch das hohe, wegen der Dicke der Mauern angenehm kühle Erdgeschoss. In den beiden Bewirtungsräumen, im imposanten Festsaal und in der größten Küche, die er je in einem Gasthof gesehen hatte, hallten ihre Schritte auf den Steinböden, als schritten sie durch eine leere Kirche. Nirgends fiel ihm der kleinste Schaden auf. Sogar die Scheiben oben im ersten Stock, wo die Fenster keine schützenden Läden hatten, waren sämtlich heil geblieben.
Mit drei Petroleumlampen, die zu diesem Zweck in einem Wandkasten bereitgehalten wurden, ging es
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